Genie-Mythen waren schon lange fragwürdig. Im Zeitalter von Big Science und sinkenden "wissenschaftlichen Profitraten" sind sie vollends obsolet.
Gerhard Fröhlich
Kreativität" und "Innovation" sind heute äußerst positiv besetzt und ähnlich wie "Kritik" Verpflichtungsbegriffe. Niemand kann es sich im öffentlichen Diskurs leisten, als unkreativ, nicht innovativ und unkritisch zu gelten - oder gar stolz darauf zu sein. Der Kreativitätsbegriff legitimiert Genie-Mythen: Selbst in den wissenschaftlichen Lehrbüchern wird die Entwicklung der jeweiligen Disziplin als eine Abfolge großer Männer und ihrer Heldentaten geschildert. Doch neuere akribische Untersuchungen zeigen, dass wissenschaftliche Entdeckungen objektiv durch und durch historisch-soziale, kollektive Prozesse sind, von großen Personengruppen, ja Generationenketten von Forschern getragen. Historisch waren grundlegende Neuerer zumeist eher verhöhnte und verspottete Außenseiter, von den jeweils etablierten - inzwischen längst vergessenen - Wissenschaftern ihrer Zeit vehement abgelehnt. Ganz entgegen offiziöser Selbstdarstellung von den geistig offenen, nur der "reinen" Wahrheit verpflichteten Wissenschaftern gehörten (und gehören) ebendiese zu den wichtigsten Gegnern grundlegender wissenschaftlicher Neuerungen. Die Bestimmung des "eigentlichen" einzigen Schöpfers einer Idee, eines Modells, einer Erfindung erweist sich zumeist als kaum möglich. Wissenschaftsbiografen betreiben nicht selten den höchst willkürlichen Abbruch der Schöpfungsgeschichte. Die so erfolgte Zuschreibung wissenschaftlicher Entdeckungen zu Einzelpersonen (vermutlich zwecks Selbsterhöhung: Ihr eigener Wert steigt mit dem Wert des Biografierten) hält, wie der Historiker Franz Stuhlhofer ("Lohn und Strafe in der Wissenschaft") belegt, genauerer Untersuchung nicht stand. Erhellend ist die Darstellung dieser "Wissenschaftsheroen" allerdings als Kontrast zur gegenwärtigen Produktivitätshysterie: Kaum einer von ihnen hätte eine heutige Evaluation überstanden. Auch der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper neigte zur Mystifizierung von Kreativität und Genie, deklarierte sich als Feind von organisierter "Big Science" und erklärte den "Entdeckungskontext" zum wissenschaftstheoretischen Unthema: Die Wissenschaftstheorie habe sich mit dem "Rechtfertigungskontext" zu befassen. Im Übrigen sei im Schaffensprozess zwischen Wissenschaft und Kunst keinerlei Unterschied. Poppers heroische und irrationalistische Auffassung von wissenschaftlicher Kreativität, dem Titel seines eigenen Hauptwerks ("The Logic of Scientific Discovery") eigentümlich widersprechend, hatte ironischerweise zur Folge, dass wir über kaum etwas bis vor kurzem so wenig wussten wie darüber, wie die von Popper so verachtete "Normalwissenschaft" zugunsten revolutionärer Entdeckungen zu überwinden sei. Folgen wir dem mehrfach preisgekrönten Wissenschaftsjournalisten John Horgan ("An den Grenzen des Wissens") und vielen der von ihm interviewten Spitzenwissenschafter, so ist heute das leicht Erforschbare erforscht - wissenschaftliche Revolutionen seien kaum mehr zu erwarten. Es bleibe nur zweierlei: einerseits Normalwissenschaft und Technologieentwicklung in den Grenzen der etablierten Paradigmen (noch genauer vermessen, noch präziser klassifizieren und patentieren), andererseits spekulative "ironische Wissenschaft". Sie biete nur mehr Standpunkte und Meinungen. Etliche Metawissenschafter vertreten diese These von den sinkenden Erträgen naturwissenschaftlicher Forschung. Nehmen wir an, die Behauptung von der "hektischen Stagnation" heutiger (Grundlagen-)Forschung trifft zu, so wäre zu untersuchen, ob dieses "Auf-der-Stelle-Treten" tatsächlich auf unüberwindbaren epistemischen Grenzen beruht oder nur auf schweren Mängeln in der Organisation der Entdeckung - trotz oder gerade aufgrund offiziös verordneter emsiger Betriebsamkeit. Wie könnten wir auf die sinkenden "wissenschaftlichen Profitraten" angemessen reagieren? Der irische Organisationsforscher John Hurley ("Organisation and Scientific Discovery") untersuchte per definitionem erfolgreiche, auf jeden Fall zumindest "mäßig innovative" Wissenschafter, nämlich Nobelpreisträger aus den Naturwissenschaften. Gegen den Nobelpreis kann viel Kritisches eingewendet werden. Er kann höchstens auf drei Preisträger aufgeteilt werden, fördert also das unzutreffende (und im Übrigen theoriefeindlich-induktivistische) Bild einzelner Entdeckungen einzelner Genies. Er heizt den skrupellosen Konkurrenzkampf an, man denke nur an James Watsons zynische Schilderung des Wettlaufs um die DNS-Struktur - sie soll aufgrund von Klageandrohungen seines Kompagnions Francis Crick bereits erheblich entschärft sein. Watson/Crick wurden von Popper (neben Einstein) als Vorbilder genannt. Hurleys Untersuchung kann zwar in jenen Teilen, die sich auf intensiven Interviews beruhen, keine Repräsentativität beanspruchen - nur zehn Prozent der Preisträger waren bereit, an seinen zeitaufwendigen Befragungen teilzunehmen. Sie bietet aber zusammen mit weiteren referierten Befunden eindrucksvolle Anregungen, wie Strukturen zur Förderung innovativer Forschung auszusehen hätten. Für österreichische WissenschafterInnen klingen Hurleys Generalisierungen allerdings eher wie Schilderungen eines wissenschaftlichen Schlaraffenlands: Alle interviewten Nobelpreisträger konnten schon sehr früh in mit Ressourcen reichlich ausgestattete Laboratorien eintreten. Es mangelte weder an erlesenen KollegInnen, Forschungsassistenten, Technikern, noch an Geld - ob für Kongressreisen, Zeitschriften oder Bücher. Sie wurden von Beginn an von hervorragenden Wissenschaftern betreut - nicht selten von (zumindest späteren) Nobelpreisträgern. Umfassende kompetente organisatorische Unterstützung gab ihnen große Freiheiten und vor allem hinreichend Zeit, ihren Motivationen freien Lauf zu lassen. Erfolgsversprechende Forschungsorganisationen bieten nach Hurley nämlich Sicherheit und Freiheit zugleich: Sicherheit und Stabilität über lange Zeit, um in großer Freiheit zu experimentieren, Intuitionen, Irr- und Umwegen zu folgen - aber auch, um sich nach geeigneten MitarbeiterInnen umzusehen. Es geht um die organisatorische Förderung produktiver Zufälle: WissenschafterInnen sollte es möglich sein, sich mit der Lösung von mehreren Problemen zugleich zu befassen, sich bei unterschiedlichen Problemen zu engagieren, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, und sich möglichst vieler Probleme gleichzeitig bewusst zu sein. Auf keinen Fall sollten sie sich auf ein enges Forschungsgebiet beschränken. John Hurley ist der festen Überzeugung, dass außergewöhnliches Talent und hohe Kreativität alleine für Spitzenleistungen keineswegs ausreichen. Ohne adäquate organisatorische Ressourcen seien Entdeckungen unwahrscheinlich. Wichtigster Erfolgsfaktor sei "organisationeller Reichtum": Eine Organisation müsse die Gelegenheit zu hoch qualifizierter informeller Forschungskommunikation bieten - ohne Aufwand, gleichsam "zwischen Tür und Angel". Kompetente (und halbwegs wohlwollende) KollegInnen sind wichtig für die Diskussion von Ideen, Projektdesigns, Ermutigung (Innovation ist Devianz, erfordert also Mut) und für Verbindungen zu WissenschafterInnen in verwandten Gebieten. Die Delegation von Detailfragen an Forschungsassistenten erlaubt das Beschreiten von Seitenwege, die man sonst vernachlässigen müsste, und vor allem das Freihalten des eigenen Kopfes für Spekulationen. Organisationeller Reichtum kann durch weitere Anwerbung hochqualifizierter Wissenschafter vergrößert werden, aber auch durch Training der organisatorischen Fähigkeiten der leitenden Wissenschafter. Denn die meisten wissenschaftlichen Entdeckungen sind Produkte kollektiver Anstrengungen. Hurley zeigt den hohen Grad an Organisationsgeschick, den wissenschaftliche Spitzenleistungen jenseits der sogenannten "eigentlichen" wissenschaftlichen Arbeit erfordern: Sei es, um die richtigen KollegInnen und MitarbeiterInnen zu gewinnen und zu motivieren; sei es, um große Gruppen hochspezialisierter MitarbeiterInnen und KollegInnen zu koordinieren oder um über Jahre Stichproben auf vier Kontinenten zu organisieren - über alle bürokratischen Hindernisse und kulturellen Differenzen hinweg. Wichtig (und schwierig zugleich) ist die Förderung des Informationsflusses, denn das Unterdrücken und Verheimlichen von Information behindert den Forschungsfortschritt erheblich. Die größte Gefahr durch Organisationen sieht Hurley in den Kontrollgelüsten ihrer Leitungen. Die "tote Hand der Kontrolle" (Hurley) könne die Energie und Kreativität von Wissenschafter zerstören. Durch unerfahrene und fantasielose Supervisoren, die auf präzise, definierbare Erfolge in kurzer Zeit aus seien, könnten wertvolle Einsichten verloren gehen. Nur wenig wissenschaftliche Forschung gehe "wie nach dem Fahrplan einer Straßenbahnlinie" vor sich. Zuviel extrinsische Motivation behindere zudem die intrinsische. Zu schön, um wahr zu sein? Schließlich wurden in den Institutionen, aus denen Hurleys Nobelpreisträger stammen, auch krasse Fälle wissenschaftlichen Betrugs und anderen unethischen Verhaltens aufgedeckt. Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsökonomie verlangen zudem, bei allem Wissen über den kollektiven Charakter wissenschaftlicher Entdeckung, nach Reduktion von Komplexität mittels Personalisierung - durch "Superstars". Die Empfehlungen der neueren Organisationsforschung - viel Freiheit, Sicherheit, Unterstützung und Zeit, wenig Kontrolle, weniger äußerliche Belohnung, mehr "innere" Motivation - decken sich jedenfalls nur wenig mit den in letzter Zeit oft so lautstark vertretenen Forderungen mobilitätspropagierender Evaluierungshardliner. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. 9./1. 10. 2000) :