Zwölf Mädchen, neun Buben - eine ganz normale Klasse. Doch in einigen Fächern werden sie getrennt unterrichtet. Und: Mädchen lernen Kung-Fu, Buben Tai-Chi. Ihre Probleme lösen sie in Kokoko-Stunden. Wien - "Aber du lasst di net unterbuttern", sprach der Vater zu seinem Sohn, als er ihn für den neuen "geschlechtssensiblen Unterricht" in der Hauptschule am Meidlinger Johann-Hoffmann-Platz anmeldete. "Unterbuttern" von den Mädchen war gemeint, die bei diesem pädagogischen Pilotprojekt, dem ersten im Wiener Pfichtschulbereich, ebenso gefördert werden sollen wie die Buben. Grundprinzip der geschlechtssensiblen Pädagogik ist, beide Geschlechter in bestimmten Disziplinen getrennt zu unterrichten. Dahinter steht die Erfahrung, dass Mädchen in Fächern wie Mathematik und Buben im Sprachunterricht üblicherweise an den Rand gespielt werden. In getrenntgeschlechtlichen Gruppen dagegen können sie ihre Begabungen voll entfalten. Unentbehrlicher Bestandteil der geschlechtssensiblen Pädagogik sind aber auch die so genannten "Kokoko-Stunden" (Kommunikation, Kooperation, Konfliktlösung), in denen Mädchen mit einer Lehrerin und Buben mit einem Lehrer anstehende Probleme in Ruhe besprechen können. Das auf vier Hauptschuljahre angelegte und regelmäßig evaluierte Projekt nennt sich PAIS (Partnerschaftliches Arbeiten in der Institution Schule) und wurde von Veronika Monka ins Leben gerufen. Die erfahrene Lehrerin war mit dem herkömmlichen Schulbetrieb unzufrieden und suchte nach einer Alternative, wenn möglich mit Akzent auf Mädchenförderung. "Ich komme aus einer frauendominanten Familie und bin außerdem in die reformfreudige Schule Rahlgasse gegangen", erklärt sie dem STANDARD ihre Motivation. Sie suchte beharrlich und fand schließlich tatsächlich einen kooperationsbereiten Schuldirektor und drei engagierte KollegInnen, darunter den Integrationslehrer Martin Henschl. Steiniger Weg Die Anfänge waren, wie immer bei Bildungsreformen, steinig und erschöpfend. Die Widerstände begannen bei den Eltern (siehe oben), gingen bei den nicht beteiligten KollegInnen weiter und endeten bei den Kindern. So wollten die Buben zum Beispiel partout nicht einsehen, warum Mädchen eine eigene Spielecke brauchen. (Weil die Buben grundsätzlich die Korridore mit Beschlag belegen.) Zum Ausgleich für ihre enorme Belastung werden die Lehrkräfte permanent supervidiert. Inzwischen ist das Projekt im dritten Jahr angekommen und beginnt, sichtbare Früchte zu tragen. "Wir stellen erfreut fest", zieht Monka Zwischenbilanz, "dass unsere Klasse im Vergleich zu den beiden Parallelklassen nahezu aggressionsfrei ist. Entweder ist es zufällig eine besonders gute Konstellation, oder die Kinder sind von uns tatsächlich emotionell so gut abgefüttert." Wer Monka und Henschl erlebt, spürt, es muss das "Futter" sein. Heute besteht die Klasse aus zwölf Mädchen und neun Buben, darunter sechs Integrationskinder, von denen vier nur partiell nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet werden. Das "Futter", das allen tagtäglich verabreicht wird, ist komplex. An erster Stelle steht der Unterricht in geschlechtshomogenen Gruppen, und zwar in Deutsch, Englisch, Mathematik, EDV, Textilem und Technischem Werken sowie Leibesübungen. Dann gibt es ein breit angelegtes "Rahmenprogramm": Die Mädchen bekommen einmal im Monat ein Selbstbehauptungstraining - Kung-Fu - "weil es für sie sehr schwer ist zu schreien und aufzustampfen". Die Buben wiederum lernen Tai-Chi, weil es "ihnen schwer fällt, langsame Bewegungen zu machen". Einmal pro Woche fährt eine Gruppe zum heilpädagogischen Voltigieren, bei dem sich die Kinder gegenseitig helfen und soziale Kompetenz lernen. Zum gleichen Zweck werden bei Exkursionen Kindergärten und Pensionistenheime besucht. Die Mädchen wiederum absolvieren heuer ein Schnuppersemester im TGM, um ihre Technikscheu zu überwinden. Buben lernen dafür textiles Werken und werden verstärkt für soziale Aufgaben herangezogen. Dazu kommt in diesem Schuljahr Unterricht in Lebensplanung und Berufsberatung. Über Gefühle reden Und immer wieder die Kokoko-Stunden, "die beide Geschlechter sehr genießen", sagt Henschl, "inzwischen können die Buben genauso gut über sich und ihre Probleme reden wie die Mädchen ." Zum Beispiel darüber, dass Mädchen immer alles "weitertratschen". Die Mädchen wiederum stört, "dass Buben sich immer so wichtig machen". Solche zwischengeschlechtlichen Probleme werden bei Bedarf gemeinsam besprochen, um die Kommunikationsfähigkeit unter den Geschlechtern zu stärken. Zur Förderung des demokratischen Bewusstseins reden die Jugendlichen auch eine Menge beim Unterricht mit. In Summe sind die jungen Leute von ihrer Klasse begeistert und votierten auch in diesem Semester wieder für getrennten Unterricht. Einige von ihnen haben inzwischen selbstständig begonnen, ihr "Wissen" an nicht am Projekt beteiligte jüngere Klassen weiterzugeben. Zwei Mädchen, die nach Niederösterreich und ins Burgenland gezogen sind, halten trotz langer Anreise an ihrer Schule fest. Aber auch die Eltern haben dazugelernt: "Eine Mutter", berichtet Monka, "bedankte sich herzlich bei mir. Sie hatte gemeinsam mit ihrem Sohn ein in der Schule besprochenes Mädchenbuch gelesen und dabei festgestellt, dass sie ihrem Kind viel zu wenig Zeit gewidmet hatte. Daraufhin änderte sie ihren Zeitplan." Heide Korn