Literatur
Der stumme Philosoph und viele laute Fragen
Zwanzig Jahre nach seinem Tod ist die Diskussion um Jean-Paul Sartre erneut entfacht.
Zwanzig Jahre nach seinem Tod ist die Diskussion um Jean-Paul Sartre erneut entfacht.
Ein Thema jedoch, das ebenso umstritten wie tabuisiert blieb, die Situation der Palästinenser
im Nahen Osten, ist in der Aufarbeitung von Sartres Engagement kaum beachtet worden.
Eine Erinnerung an eine merkwürdige Konferenz von Edward Said
Jean-Paul Sartre, der zu Lebzeiten der gefeierte Star unter den Intellektuellen
war und dann jahrelang in der Versenkung verschwand, findet neuerdings wieder ein
größeres Echo. Schon bald nach seinem Tod im Jahr 1980 hatte man seine "Blindheit"
gegenüber den sowjetischen Gulags kritisiert und sogar seinen humanistischen Existentialismus
als optimistisch überzogenen, rein volontaristischen Kraftakt lächerlich gemacht.
Sartres ganze Karriere war anstößig, sowohl für die so genannten Neuen Philosophen
- die trotz ihres Mittelmaßes aufgrund ihres glühenden Antikommunismus von sich reden
machten - als auch für die Poststrukturalisten und Postmodernisten - die bis auf wenige
Ausnahmen in einen düsteren technologischen Narzissmus verfielen und sich an Sartres
Populismus und an seinen heroischen politischen Stellungnahmen rieben.
Das unendlich weite Feld, das Sartre als Romancier, Essayist, Dramaturg, Biograph,
Philosoph, politisch engagierter Intellektueller und tatkräftiger Aktivist abdeckte,
schien mehr Leute abzustoßen als anzulocken. Innerhalb von zwanzig Jahren war Frankreichs
am häufigsten zitierter Meisterdenker auf den Stand eines Autors gesunken, dessen
Schriften am wenigsten gelesen und analysiert wurden.
Seine mutigen Stellungnahmen
zu Algerien und Vietnam waren ebenso vergessen wie sein Einsatz für die Unterdrückten
und seine Intervention als radikaler Maoist während der 68er Studentendemonstrationen
in Paris; vergessen auch sein außerordentliches Ansehen und der Ruhm seines literarischen
Werks (der ihm den Nobelpreis einbrachte und ihn gleichzeitig zu dessen Ablehnung
veranlasste). Was blieb, war eine übel beleumdete Exberühmtheit - außer in der angloamerikanischen
Welt, wo man Sartre als Philosoph nie ernst genommen und immer mit einer gewissen
Herablassung gelesen hatte: ein netter Gelegenheitsromancier und -biograph, unzulänglicher
Antikommunist und bei weitem nicht so chic und verführerisch wie (der weniger begabte)
Albert Camus.
Aber dann schlug die Mode, wie man es aus Frankreich bei vielen Dingen kennt, plötzlich
wieder um - so jedenfalls erschien es aus der Entfernung. Mehrere Bücher über Sartre
kamen heraus, er wurde wieder (vielleicht nur vorübergehend) ein Gesprächsthema, wenn
nicht gar Gegenstand neuerlicher Studien und Reflexionen. Ich muss sagen, dass er
für meine Generation immer einer der großen intellektuellen Helden des 20. Jahrhunderts
war, ein Mann, der seine Einsicht und seine intellektuellen Gaben in den Dienst fast
jedes fortschrittlichen Anliegens unserer Zeit gestellt hat. Dennoch schien er uns
weder unfehlbar, noch galt er uns als Prophet. Im Gegenteil, wir bewunderten ihn gerade
wegen seiner Bemühungen, Situationen zu verstehen und, wenn nötig, politische Solidarität
zu üben. Dabei war er nie herablassend oder ausweichend, auch wenn er manches Mal
zu irren oder zu übertreiben schien. Seine Größe war über jedes Durchschnittsmaß erhaben.
Fast alles, was er schrieb, war von Interesse - allein schon wegen seiner Kühnheit,
seiner Freiheit (einschließlich der Freiheit, geschwätzig zu sein) und der Großzügigkeit
seines Denkens.
Die Ausnahme von der Regel
Doch es gibt eine offensichtliche Ausnahme, von der ich hier erzählen möchte. Den
Anstoß dazu gaben mir zwei hochinteressante, wenngleich desillusionierende Berichte
über Sartres Ägyptenbesuch Anfang 1967, die kürzlich in der ägyptischen Wochenzeitung
Al-Ahram erschienen sind: Den einen fand ich in einer Rezension des neuen Sartre-Buches
von Bernard-Henry Lévy, den anderen in der Besprechung eines Berichts, den Lotfi al-Kholi
(ein führender Intellektueller, der damals einer von Sartres ägyptischen Gastgebern
war) im Nachhinein von seinen damaligen Eindrücken geliefert hat. Meine eigene, ziemlich
desolate Erfahrung mit Sartre war nur eine winzige Episode in einem wahrhaft großen
Leben, aber das Ironische und Ergreifende daran scheint mir denkwürdig genug, um sie
in Erinnerung zu rufen.
Es war Anfang Januar 1979. Ich war zu Hause in New York und bereitete gerade eine
Vorlesung vor, als es an der Haustür klingelte. Ein Telegramm wurde gebracht. Während
ich es aufriss, stellte ich mit Interesse fest, dass es aus Paris kam: "Les Temps
modernes bitten Sie um Ihre Teilnahme an einem Seminar über den Frieden im Nahen Osten,
das wir am 13. und 14. März dieses Jahres in Paris veranstalten. In Erwartung Ihrer
Antwort, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre."
Zuerst glaubte ich an einen Scherz. Das Telegramm hätte ebenso gut eine Einladung
von Cosima und Richard Wagner nach Bayreuth oder von T. S. Eliot und Virginia Woolf
zu einer Nachmittagsrunde in den Räumen des Criterion sein können. Ich brauchte zwei
Tage, um mich über verschiedene Freunde in New York und Paris der Echtheit des Schreibens
zu vergewissern, und sehr viel weniger Zeit, um meine bedingungslose Teilnahme zu
bestätigen (zumal ich erfahren hatte, dass Les Temps modernes die Reisekosten - les
modalités, wie die Franzosen beschönigend sagen - übernehmen würden). Einige Wochen
später machte ich mich auf den Weg nach Paris.
Die nach dem Krieg von Sartre gegründete Monatszeitschrift Les Temps modernes hatte
im intellektuellen Leben Frankreichs und später in ganz Europa, ja sogar in der Dritten
Welt, eine herausragende Rolle gespielt. Es war Sartre gelungen, eine Gruppe durchaus
verschiedenartiger Leute um sich zu scharen. Zu ihnen gehörten - außer natürlich Simone
de Beauvoir - sein großer Gegenspieler Raymond Aron, der brillante Philosoph und ehemalige
Mitschüler Sartres an der École normale Maurice Merleau-Ponty (der die Zeitschrift
einige Jahre später verließ), sowie der Ethnograph, Afrikanist und Stierkampf-Theoretiker
Michel Leiris. Es gab keine wesentliche Frage, mit der Sartre und sein Kreis sich
nicht beschäftigten. Die Diskussion über den Israelisch-Arabischen Sechstagekrieg
von 1967 hatte sogar eine monumentale Nummer von Les Temps modernes hervorgebracht,
die ihrerseits Gegenstand eines glänzenden Essays von L. F. Stone geworden war. Das
allein schien mir ein gutes Vorzeichen für meine Reise nach Paris.
Bei meiner Ankunft fand ich in meinem Hotel im Quartier Latin einen kurzen, rätselhaften
Brief von Sartre und Beauvoir vor: "Aus Sicherheitsgründen", lautete die Nachricht,
"finden die Treffen in der Wohnung von Michel Foucault statt." Des Weiteren wurde
mir die Adresse mitgeteilt. Als ich am nächsten Morgen Foucaults Appartement betrat,
herrschte dort bereits ein reges Treiben. Nur Sartre war nicht da. Niemand gab mir
eine Erklärung für die mysteriösen "Sicherheitsgründe", um deretwillen der Ort geändert
worden war, aber die Wirkung blieb nicht aus: Ein Hauch von Konspiration lag über
der Veranstaltung.
Simone de Beauvoir war bereits eingetroffen. Unverkennbar mit ihrem Turban auf dem
Kopf, hielt sie jedem, der es hören wollte, einen Vortrag über ihre bevorstehende
Reise nach Teheran, wo sie gemeinsam mit Kate Millett gegen den Schador protestieren
wollte. Ich fand die ganze Idee unerträglich bevormundend und dumm. Und obwohl ich
gerne wissen wollte, was Beauvoir zu sagen hatte, stellte ich fest, dass sie reichlich
eingebildet und in jenem Moment für Argumente recht unzugänglich war. Nach etwa einer
Stunde (kurz bevor Sartre kam) verschwand sie im Übrigen auf Nimmerwiedersehen.
Foucault machte mir kurz klar, dass er zum Thema unseres Seminars nichts beizutragen
habe und sich baldmöglichst in die Bibliothèque Nationale begeben werde, um seine
tägliche Forschungsarbeit zu erledigen. Mit Genugtuung sah ich, dass mein Buch "Beginnings"
in seinen Regalen stand, die massenhaft Materialien enthielten, alles säuberlich sortiert,
bis hin zu Zeitungen und Papieren. Obwohl sich zwischen uns eine freundliche Plauderei
entspann, konnte ich mir erst sehr viel später - fast zehn Jahre nach seinem Tod 1984
- einen Reim darauf machen, warum er so unwillig gewesen war, auch nur ein Wort über
die Nahostpolitik mit mir zu reden. Didier Eribon enthüllt in seiner Biographie, dass
Foucault 1967 in Tunesien gelehrt und das Land kurz nach dem Junikrieg überstürzt
verlassen hatte. Als Grund hatte er selbst seine Abscheu vor den antiisraelischen,
"antisemitischen" Ausschreitungen genannt, die es nach der arabischen Niederlage in
allen arabischen Städten gab. Eine tunesische Kollegin von der philosophischen Fakultät
in Tunis erzählte mir Anfang der Neunzigerjahre eine andere Geschichte: Foucault,
sagte sie, sei wegen seiner homosexuellen Beziehungen zu jüngeren Studenten abgeschoben
worden. Ich weiß bis heute nicht, welche der beiden Versionen stimmt.
Zur Zeit unseres Pariser Seminars erzählte mir Foucault, er sei gerade als Sonderkorrespondent
des Corriere della Sera im Iran gewesen. "Sehr aufregend, sehr merkwürdig, verrückt",
so in etwa erinnere ich seine Worte über die ersten Tage der Islamischen Revolution.
Ich glaube (aber vielleicht ist es ein Irrtum), ich habe ihn auch sagen gehört, er
habe sich in Teheran mit einer Perücke verkleidet, obwohl er sich kurz nach dem Erscheinen
seiner Artikel schleunigst von all diesen Dingen distanzierte. In den späten Achtzigerjahren
sagte mir schließlich Gilles Deleuze, er habe sich mit seinem ehemals engsten Freund
Foucault wegen der Palästinafrage überworfen. Foucault hatte Israel unterstützt, Deleuze
die Palästinenser.
Die Verdammten ohne Erde
Das weiträumige, ausgesprochen komfortable Appartement Foucaults war sehr nüchtern
und streng in Weiß gehalten, dem einsamen Philosophen und rigorosen Denker wie auf
den Leib geschrieben. Unter den Anwesenden entdeckte ich einige wenige Palästinenser
und israelische Juden. Ich selber erkannte nur Ibrahim Dakkak, der mittlerweile ein
guter Freund von mir in Jerusalem ist, außerdem Nafez Nazzal, Professor in Bir Zeit,
den ich in den USA flüchtig kennengelernt hatte, und Yehoshofat Harkabi, den führenden
israelischen Experten für "arabische Mentalität", ein ehemaliger Geheimdienstchef,
der von Golda Meir gefeuert worden war, weil er irrtümlich die Armee in Alarmzustand
versetzt hatte. Drei Jahre zuvor waren wir uns als Kollegen am Stanford Center for
Advanced Studies in the Behavioral Sciences begegnet, jedoch ohne näheren Kontakt
- immer höflich, aber alles andere als herzlich. Als wir uns in Paris trafen, war
er gerade im Begriff, die einflussreichste Taube des israelischen Establishments zu
werden, ein Mann, der bald offen von der Notwendigkeit eines palästinensischen Staates
sprach, da er sich davon einen strategischen Vorteil für Israel erhoffte.
Die übrigen Teilnehmer waren hauptsächlich israelische und französische Juden, von
den Religiösesten bis zu den Weltlichsten, aber allesamt mehr oder weniger prozionistisch.
Einer von ihnen, Elie Ben Gal, schien ein alter Bekannter von Sartre zu sein; wir
erfuhren später, dass er ihn auf seiner letzten Israel-Reise begleitet hatte.
Als der Meister lange nach der vereinbarten Zeit endlich erschien, war ich bestürzt,
wie alt und hinfällig er aussah. Ich erinnere mich, dass man ihn, völlig überflüssig
und idiotisch, mit Foucault bekannt machte. Ich erinnere mich auch, dass Sartre ständig
von ein paar Leuten umgeben war, die ihn nicht aus den Augen ließen, ihn unterstützen,
ihn umsorgten, ihm soufflierten, von denen er ganz und gar abhängig war und die ihn
ihrerseits zur Hauptbeschäftigung ihres Lebens gemacht hatten. Eine dieser Personen
war seine Adoptivtochter, algerischen Ursprungs, wie ich hörte, die sein literarisches
Vollzugsorgan gewesen sein soll. Der zweite im Bunde war Pierre Victor, ein ehemaliger
Maoist und - neben Sartre - Mitherausgeber der früheren La Cause du peuple, der zu
einem zutiefst religiösen und, wie ich annahm, orthodoxen Juden geworden war. Ich
wunderte mich nicht wenig, als ein Assistent von Les Temps modernes mir später enthüllte,
dass er in Wirklichkeit ein ägyptischer Jude namens Benny Levy war, ein Bruder von
Adel Rafat (geb. Levy) und einer der beiden Autoren des so genannten Mahmoud-Hussein-Gespanns.
(Sein Partner war ein ägyptischer Muslim: Beide hatten bei der Unesco gearbeitet und
unter dem gemeinsamen Namen "Mahmoud Hussein" 1975 den berühmt gewordenen, bei Maspéro
erschienenen Essai "La lutte des classes en Égypte" geschrieben.) Äußerlich hatte
Victor nichts Ägyptisches an sich. Er kam daher wie ein Intellektueller der Rive Gauche,
halb Denker, halb Gschaftlhuber.
Die dritte war Helene von Bülow, eine Mitarbeiterin der Zeitschrift, die dreisprachig
war und für Sartre alles übersetzte. Trotz seiner Deutschlandaufenthalte und obwohl
er nicht nur über Heidegger geschrieben hatte, sondern auch über Faulkner und Dos
Passos, konnte Sartre weder Deutsch noch Englisch. Von Bülow, eine liebenswerte, elegante
Frau, harrte während des ganzen Seminars an Sartres Seite aus und flüsterte ihm Simultanübersetzungen
ins Ohr. Mit Ausnahme eines in Wien lebenden Palästinensers, der nur deutsch und arabisch
sprach, fanden unsere Diskussionen auf Englisch statt. Wie viel Sartre tatsächlich
davon mitbekam, werde ich nie erfahren, aber es war (für mich und für andere) außerordentlich
befremdend, dass er in den Sitzungen des ersten Tages vollkommen stumm blieb. Michel
Contat, sein Biograph, war ebenfalls zugegen, beteiligte sich jedoch nicht.
Ganz im Stil dessen, was ich für französische Lebensart hielt, war das Mittagessen
- das unter normalen Umständen vielleicht eine Stunde gedauert hätte - eine hochkomplizierte
Angelegenheit. Das Restaurant war etwas weiter entfernt, und da es in Strömen regnete,
mussten alle in Taxis verfrachtet werden. Bis das Vier-Gänge-Menü verspeist war und
man die Gruppe an den Tagungsort zurückbefördert hatte, waren gut dreieinhalb Stunden
vergangen. Am ersten Tag dauerten unsere Diskussionen über den "Frieden" also nur
recht kurze Zeit. Die Themen wurden von Victor vorgestellt, ohne dass er meines Wissens
irgendjemanden konsultiert hatte. Man merkte gleich, dass er hier wie selbstverständlich
den Ton angab - sicher dank seiner privilegierten Beziehung zu Sartre (mit dem er
sich gelegentlich flüsternd verständigte), aber auch, weil sein Selbstvertrauen grenzenlos
erhaben schien. Wir sollten also diskutieren: 1. über die Bedeutung des Friedensvertrags
zwischen Ägypten und Israel (es war die Zeit von Camp David); 2. über den Frieden
zwischen Israel und der arabischen Welt im Allgemeinen; 3. über die schon eher fundamentale
Frage der zukünftigen Koexistenz zwischen Israel und seiner arabischen Umgebung. Keiner
der anwesenden Araber schien damit glücklich zu sein. Ich hatte den Eindruck, dass
die Palästinenserfrage unter den Tisch gekehrt wurde. Dakkak fühlte sich bei dem ganzen
Arrangement nicht wohl und reiste nach dem ersten Tag ab.
Der alte Mann und der Zug
Mit der Zeit fand ich heraus, dass der Ausrichtung des Seminars allerhand Händel
und Absprachen vorausgegangen waren und dass die Vorgespräche die Vertreter der arabischen
Welt vor den Kopf gestoßen haben mussten - was an den wenigen arabischen Mitdiskutanten
unschwer zu erkennen war. Ich bedauerte ein wenig, dass ich nicht im Vorhinein einbezogen
worden war. Vielleicht war ich zu naiv gewesen, dachte ich mir, zu begierig, nach
Paris zu fahren, um Sartre zu begegnen. Es war die Rede von Emmanuel Levinas gewesen,
der kommen sollte, aber er tauchte nie auf, ebenso wenig wie die ägyptischen Intellektuellen,
die man uns angekündigt hatte. Unterdessen wurden alle unsere Diskussionen auf Tonband
aufgezeichnet und später als Sondernummer von Les Temps modernes (September 1979)
veröffentlicht. Ziemlich unbefriedigend, wie ich fand. Jeder bewegte sich mehr oder
weniger auf vertrautem Boden. Eine echte Begegnung fand nicht statt.
Simone de Beauvoir war eine herbe Enttäuschung, wie sie in einer Wolke selbstherrlichen
Geplappers über den Islam und die Verschleierung der Frau aus dem Zimmer stolziert
war. Damals konnte ich ihr Fernbleiben vom Seminar nicht als Verlust empfinden, später
war ich überzeugt, dass sie Leben in die Diskussion gebracht hätte. Was Sartre betrifft,
so war seine Anwesenheit, wenn man es überhaupt so nennen kann, sonderbar passiv,
ausdrucksschwach, fast teilnahmslos. Stundenlang sagte er kein Wort. Beim Essen saß
er mir gegenüber, mit untröstlicher Miene und völlig verschlossen, während Ei und
Majonäse ihm zu allem Unglück übers Kinn liefen. Ich versuchte, mit ihm ins Gespräch
zu kommen, aber ohne Erfolg. Vielleicht war er taub, ich weiß es nicht. Jedenfalls
kam er mir vor wie eine Karikatur dessen, was er einmal gewesen war: seine sprichwörtliche
Hässlichkeit, seine Pfeife, seine undefinierbare Kleidung, die an ihm herunterhing
- wie Requisiten auf einer verlassenen Bühne. Ich hatte mich damals aktiv in der Politik
der Palästinenser engagiert: 1977 war ich Mitglied des Nationalrats geworden, und
bei meinen häufigen Fahrten nach Beirut (es war die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs),
wo ich meine Mutter besuchte, traf ich regelmäßig mit Arafat und den meisten anderen
Führern der damaligen Zeit zusammen. Ich glaubte, es wäre für unsere Sache ein Riesenerfolg,
wenn ich Sartre in dieser "heißen" Phase unserer tödlichen Rivalität mit Israel ein
Statement zugunsten der Palästinenser entlocken könnte.
Im Restaurant und während der Nachmittagssitzung erschien mir Pierre Victor wie der
Bahnhofsvorsteher des Seminars, der die verschiedenen Züge rollen ließ - darunter
Sartre selbst. Abgesehen von ihrem geheimnisvollen Geflüster am Tisch, standen Victor
und Sartre hin und wieder auf; Victor führte den schlurfenden alten Mann dann beiseite,
redete heftig auf ihn ein, bekam als Antwort ein ein- oder zweimaliges Kopfnicken,
und dann kehrten die beiden zurück.
Da jeder in der Runde nunmehr danach strebte, seine Meinung kundzutun, war es unmöglich,
eine Argumentation zu entfalten. Eines allerdings wurde sehr bald klar: Der eigentliche
Gegenstand des Seminars war die Stärkung Israels (das, was man heute als "Normalisierung"
bezeichnet) - nicht etwa die Araber oder die Palästinenser. Schon vor mir hatten mehrere
Araber versucht, einen angesehenen Intellektuellen von der Gerechtigkeit ihrer Sache
zu überzeugen und sich der Hoffnung hingegeben, er würde sich in einen zweiten Arnold
Toynbee oder Sean McBride verwandeln. Nur wenige der großen Eminenzen taten es. Sartre
allerdings schien mir zweifelsfrei der Mühe wert, schon wegen seiner Haltung zu Algerien,
die wohl für einen Franzosen schwieriger zu vertreten war als eine kritische Einstellung
gegenüber Israel. Aber natürlich täuschte ich mich.
Die geschwollenen und unergiebigen Debatten hielten an. Schließlich hatte ich es
satt, mich selbst vergeblich daran zu erinnern, dass ich doch nach Paris gekommen
war, weil ich Sartre reden hören wollte und nicht irgendwelche Leute, deren Meinung
ich schon kannte und die ich nicht besonders spannend fand. Also unterbrach ich am
frühen Abend schamlos die Diskussion und verlangte, unverzüglich Sartre selbst zu
hören. Das sorgte für Bestürzung. Die Runde wurde ausgesetzt, und man fand sich zu
hektischen Beratungen zusammen. Auf mich wirkte die ganze Szene komisch und tragisch
zugleich, um so mehr, als Sartre selbst offenbar keinen Anteil an der Krisenberatung
hatte. Schließlich wurden wir von dem sichtlich irritierten Pierre Victor wieder an
den Tisch gebeten, und er verkündete im Ton eines römischen Senators: "Demain Sartre
parlera." Darauf zogen wir uns zurück, in gespannter Erwartung dessen, was da kommen
würde.
Am nächsten Morgen hatte Sartre uns natürlich etwas zu bieten: einen vorbereiteten
Text von ungefähr zwei Schreibmaschinenseiten, der - ich stütze mich allein auf das
Gedächtnis einer zwanzigjährigen Erinnerung - den Mut von Anwar Sadat in denkbar banalen
Plattitüden pries. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sätze über die Palästinenser,
über deren tragische Vergangenheit bzw. über die besetzten Gebiete gefallen wären.
Mit Sicherheit wurde der israelische Siedlungs-Kolonialismus, der in so mancher Hinsicht
den französischen Praktiken in Algerien glich, an keiner Stelle erwähnt. Das Ganze
war so informativ wie eine Nachricht der Agentur Reuters - offensichtlich geschrieben
von dem ungeheuerlichen Victor, um Sartre, den er vollständig zu beherrschen schien,
aus der Klemme zu helfen.
Ich war einigermaßen erschüttert, zu sehen, dass der große intellektuelle Held auf
seine alten Tage einem so reaktionären Mentor anheim gefallen war und dass der einstige
Streiter für die Unterdrückten zur Palästinafrage nichts beizusteuern hatte als ein
konventionelles, journalistisches Lob auf einen schon hinreichend gefeierten ägyptischen
Führer. Den Rest des Tages fiel Sartre in sein Schweigen zurück, und es ging weiter
wie gehabt. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die sich zwanzig Jahre zuvor zugetragen
haben sollte und in der es hieß, Sartre sei nach Rom gefahren, um (den damals an Leukämie
sterbenden) Fanon zu treffen, und habe ihm dann geschlagene 16 Stunden lang die algerische
Tragödie vorgetragen - bis Simone ihn dazu bewegen konnte, endlich davon abzulassen.
Diesen Sartre gab es nicht mehr.
Reise ans Ende der Macht
Als das Transkript der Seminardiskussionen einige Monate später in Les Temps modernes
erschien, war Sartres Beitrag zusammengestrichen und noch seichter geworden. Warum,
kann ich mir nicht vorstellen, und ich habe auch nicht versucht, es herauszufinden.
Obwohl ich die Sondernummer, in der wir alle auftauchen, immer noch zu Hause habe,
konnte ich mich bis heute nicht überwinden, mehr als einige Auszüge nachzulesen, so
flach und nichtssagend erscheinen mir diese Seiten jetzt. Im gleichen Geiste, in dem
Sartre einst nach Ägypten eingeladen gewesen war, um arabische Intellektuelle zu treffen
und mit ihnen zu reden, war ich nach Frankreich gereist, um Sartre zu hören - leider
auch mit dem gleichen Resultat, nur dass meine Erfahrung getrübt, um nicht zu sagen
befleckt war durch die Anwesenheit eines unangenehmen Mittlers, Pierre Victor, der
seither verdientermaßen in Vergessenheit geraten ist. Ich hatte mich gefühlt wie Stendhals
Fabrice del Dongo in Waterloo - hoffnungslos gescheitert und enttäuscht.
Und eine letzte Bemerkung: Neulich sah ich zufällig eine Folge von "Bouillon de culture",
der wöchentlichen Diskussionssendung mit Bernard Pivot, die vom französischen Fernsehen
ausgestrahlt und mit etwas Verspätung in den USA übernommen wird. Es ging um Sartres
langsame, postume Rehabilitation trotz anhaltender Kritik an seinen politischen Sünden.
Bernard-Henry Lévy - ein größerer Gegensatz zu Sartre, was die geistigen Fähigkeiten
und den politischen Mut betrifft, lässt sich wohl kaum finden - stellte den offensichtlich
positiven Essay vor, den er über den alten Philosophen geschrieben hat. (Ich gebe
zu, ich habe das Buch nicht gelesen und habe auch nicht die Absicht, es zu tun.) Im
Grunde sei Sartre gar nicht so schlecht, räumte BHL ein, immerhin finde man bei ihm
Haltungen, die immer noch bewundernswert und politisch korrekt seien. BHL wollte damit
etwas aufwiegen, was er für eine begründete Kritik hielt: dass Sartre sich im Kommunismus
immer getäuscht hatte. "Seine Einstellung zu Israel beispielsweise war korrekt", deklarierte
BHL. "In Bezug auf den jüdischen Staat hat er nie geschwankt, sondern ihn immer voll
unterstützt."
Sartre ist, aus Gründen, die wir noch immer nicht kennen, seinem fundamentalen Philozionismus
tatsächlich immer treu geblieben. Hatte er Angst, als Antisemit zu gelten? Schuldgefühle
wegen des Holocaust? Verwehrte er sich selbst eine grundsätzliche Anerkennung der
Palästinenser als Opfer im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten Israels, oder was für
Gründe mag es sonst gegeben haben? Ich werde es nie erfahren. Ich weiß nur, dass er
im Alter kaum etwas anderes war als in früheren Lebensjahren: eine bittere Enttäuschung
für jeden (nichtalgerischen) Araber, der seine übrigen Haltungen und seine Werke mit
Recht bewunderte. Bertrand Russell hat es zweifelsohne besser gemacht: Obwohl auch
er in seinen letzten Jahren von einem anderen - meinem alten Freund Ralph Schoenman,
der in Princeton mein Klassenkamerad gewesen war - gelenkt und, wie manche behaupten,
absolut manipuliert wurde, nahm er zur israelischen Politik gegenüber den Arabern
doch noch kritisch Stellung.
Wie kommt es, dass große Männer auf ihre alten Tage so leicht der List eines Jüngeren
verfallen beziehungsweise in der politischen Erstarrung enden? Ein deprimierender
Gedanke, aber in Sartres Fall ist etwas Wahres daran. Abgesehen von Algerien, hat
ihn die gerechte Sache der Araber nie sonderlich beeindruckt, vielleicht wegen Israel,
vielleicht mangels einer elementaren Sympathie aufgrund kultureller oder religiöser
Unterschiede - ich weiß es nicht. In dieser Hinsicht befand er sich in krassem Gegensatz
zu seinem großen Idol und alten Freund Jean Genet, der seiner eigentümlichen Leidenschaft
für die Palästinenser nicht nur mit langen Aufenthalten in ihrer Mitte huldigte, sondern
auch mit seinen Werken, mit dem unvergesslichen "Vier Stunden in Chatila" und schließlich
mit "Ein verliebter Gefangener".
Ein Jahr nach unserer kurzen und enttäuschenden Pariser Begegnung war Sartre tot.
Ich erinnere mich lebhaft, wie sehr ich seinen Tod betrauerte.
(Deutsch von Grete Osterwald - Der Autor ist Professor
für englische und vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia-Universität,
USA. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt die Autobiographie "Am falschen Ort", aus
dem Amerikanischen von Meinhard Büning, Berlin Verlag 2000.)