Wien - Mit experimenteller Mathematik beschäftigt sich am Donnerstag, Jonathan Borwein, Direktor des Center for Experimental and Constructive Mathematics der Simon Fraser University (Burnaby, Kanada) in der Universität Wien. Skurril: Was haben Mathematik und Experimente gemein? Borwein erlangte Weltruhm, weil mit seinen Berechnungen die bisher genaueste Ermittlung der berühmten und seltsamen Kreiszahl Pi gelang, jenes Faktors, mit dem man die Länge des Kreisdurchmessers multipliziert, um den Kreisumfang zu erhalten. Schreibt man dem Kreis ein regelmäßiges Sechseck ein, sieht man sofort, dass Pi ein wenig größer ist als 3. Archimedes war der erste, der ein Verfahren erfand, mit dem man Pi ziemlich genau berechnen kann. Er selbst stellte fest, dass Pi größer als 3,1408 und kleiner als 3,1429 ist. Borwein forscht in der Tradition des Archimedes. Er erfand ein Rechenverfahren, mit dessen Hilfe der Computer die Kreiszahl auf sagenhafte 206.158.430.000 Nachkommastellen berechnet. Nimmt man an, auf einer Buchseite im Mathematikinstitut finden 5000 Ziffern von Pi Platz, erfordert dies einen Bedarf von mehr als 40 Millionen Seiten. Das entspricht 40.000 Bänden im Lexikonformat - dem Prunksaal der Nationalbibliothek! Und in jedem dieser Bücher finden sich in eintönigster Weise die Dezimalstellen von Pi. Wie beim Roulette Nicht die geringste Regelmäßigkeit in der Aufeinanderfolge ihrer Ziffern konnte bisher entdeckt werden. Vielmehr scheinen die Ziffern 0 bis 9 so willkürlich aufzutauchen wie die Zahlen von 0 bis 36 im Roulette von Monte Carlo. Das Verrückte an der Berechnung aber ist, dass sie von Pi fast nichts verrät. Denn man weiß, daß die Dezimalentwicklung von Pi nie abbricht. Wie mächtig ein Computer sein mag - nie kann er uns alle Nachkommastellen von Pi verraten. Wozu dann dieser gigantische Aufwand? Einerseits wird bei Rechnungen wie diesen das Leistungsvermögen der neuesten Computer getestet. Eine Maschine, die Pi auf 200 Milliarden Stellen genau berechnet, lässt jedes ihrer Elektronen tanzen - und die Computerhersteller sind daran interessiert, dass das Ballett der Elektronen nach einer perfekten Choreographie abläuft. Andererseits reizt das undurchschaubare Pi, weil es den Charakter des Absoluten in sich trägt. Weder die Elementarteilchen noch die Galaxien reichen an dieses Absolute heran - Grund genug, daran seine intellektuellen Fähigkeiten zu erproben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.10.2000, Seite 20); (Rudolf Taschner)