London/Paris/Warschau/Prag/Moskau/Rom/Berlin/Bern/Barcelona - Die neue nationalistische Führung in Belgrad wird nach Ansicht führender Zeitungen vor allem daran zu messen sein, wie sie mit der serbischen Kriegsschuld und den Kriegsverbrechern sowie mit dem Kosovo-Problem umgehen wird. "The Guardian": Test für die Rehabilitierung Die britische Zeitung schreibt: "Für die Welt, die das alles beobachtet, wird ein wesentlicher Test für die Rehabilitierung Serbiens die Frage sein, wie man mit den angeklagten Kriegsverbrechern Radovan Karadzic und Ratko Mladic umgeht. Vor allem muss sich Slobodan Milosevic, der Mann, der sie schuf und ihnen Unterschlupf gewährte, für seine Verbrechen verantworten. In all diesen Fragen sollte es kein Gemauschel und keine Amnestie geben." "Financial Times": Zukunft des Balkans gestalten Die britische Financial Times meint: "Auf die Europäische Union kommt der größte Teil der Aufgabe zu, die Zukunft des Balkans zu gestalten (...) Wenn Brüssel Serbien Hilfe anbietet, dann muss diese sehr viel schneller als in der Vergangenheit ankommen. Aber der Weg zu Wohlstand auf dem Balkan und zur Integration in Europa führt über den Handel und nicht über Hilfslieferungen. Der entscheidende Test für die Großzügigkeit der EU gegenüber Serbien und dem Rest des Balkans sollte nicht die Größe der milden Gaben, sondern die Aussicht auf einen Beitritt zu EU sein. Dies ist zwar noch eine Weile entfernt, aber es erscheint nicht mehr als unmöglich." "Le Monde": Kein folgsamer Partner Europas Die französische Zeitung schreibt: "Vojislav Kostunica wird kein folgsamer Partner Europas sein. Der gemäßigte, aber standfeste Nationalist, der Milosevic zu Fall gebracht hat, lehnt es ab, dass sich das Kosovo emanzipiert. Und er ist auch gegen das Erscheinen des früheren Diktators vor dem Kriegsverbrechertribunal im Haag. Damit zeichnen sich zumindest zwei ernsthafte Gründe für eine Dissonanz mit den 15 der EU ab." "Le Figaro": Kostunica einer der Führer dieses Nationalismus "Bei aller Würdigung des Befreiers eines Volkes, das ihm jetzt zujubelt, darf nicht vergessen werden, dass das Abtreten des alten Machthabers keines der vom serbischen Nationalismus hervorgerufenen Probleme löst. Kostunica ist einer der Führer dieses Nationalismus. Er hat wiederholt deutlich gemacht, dass er der NATO feindlich gegenüber steht, und sie beschuldigt, moslemisch geprägte Länder wie Bosnien und Albanien zu beschützen. Und er hat außerdem die Kompetenz des Haager Kriegsverbrechertribunals in Frage gestellt.", so die französische Tageszeitung. "Corriere della Sera": Er wird nicht wie Milosevic regieren Die italienische Zeitung schreibt: "Kostunica ist ein nationaler Führer mit häufig nationalistischem Tonfall. Er hat Milosevic auch und vor allem besiegt, weil er nie darauf verzichtete, die NATO zu kritisieren, die Bombardements zu beklagen, die territoriale Integrität einzufordern und zu erklären, dass er seinen Gegner nicht an das internationale Tribunal ausliefern wolle (...) Er wird nicht wie Milosevic regieren und sicherlich mehr Achtung vor den Menschenrechten seiner Mitbürger haben. Aber er wird mit Stolz und Eigensinn wieder etliche alte serbische Probleme auf den Tisch bringen, die gelöst werden müssen." "Die Welt": Moskau hat lange gezögert Die deutsche Zeitung analysiert: "Lange hat Moskau gezögert, sich von Milosevic abzuwenden; lange musste der Wahlsieger Kostunica auf den gnädigen Segen aus dem Kreml warten. Dass er ihn am Freitag erhalten hat, beweist nicht Moskauer Moral oder Sinn für Gerechtigkeit, vielmehr zeugt es von kaltem Herzen und Kalkül." "Frankfurter Rundschau": Solidarität ist angesagt "Vor der Siegerpose, vor dem moralischen Diktat müssen sich alle hüten, die nun mit Recht über den ersten und entscheidenden Sieg der demokratischen Bewegung Glücksgefühle entwickeln. Nicht die Erteilung von Rezepturen, die manche politische Quacksalberei enthalten können, ist nun angesagt, sondern Solidarität. Ungeschick und Besserwisserei können die nächsten Hindernisse ungeahnt rasch errichten. Die neue Belgrader Führung ist nationalistisch, wie könnte es anders ein." "Süddeutsche Zeitung": Brandstifter und Feuerwehrmann "Dass Milosevic inmitten der Flammen so lange überleben konnte, liegt an zweierlei: Erstens hat er es verstanden, mühelos zwischen den Rollen des Brandstifters und des Feuerwehrmannes hin und her zu wechseln. Und zweitens hat man ihm diesen Rollenwechsel immer wieder zugestanden - im Inland, und viel zu lange auch im westlichen Ausland." "Die Tagespost" (Würzburg): Kostunica ist kein Lech Walesa "Kostunica ist kein Lech Walesa, so wie auch Boris Jelzin kein Vaclav Havel war. So sehr die unblutige Beseitigung der Sowjetdiktatur durch Jelzin einst ein historischer Akt war, ohne dass daraus schon Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für Russland resultierten, so sehr ist die Beseitigung der Milosevic-Diktatur durch die von Kostunica geführte Opposition ein Erfolg, ohne dass Serbien damit schon den Anschluss an Europa erlangt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Westen hat keine Alternative, denn es gibt in Serbien keinen Walesa und keinen Havel, auf die man setzen könnte." "Berner Zeitung": Kostunica taugt nicht zum Hoffnungsträger Die in Bern erscheinende "Berner Zeitung" schreibt zum Volksaufstand in Belgrad: "In Belgrad hat jetzt die Stunde Vojislav Kostunicas geschlagen. Zum Hoffnungsträger für die Zukunft taugt er kaum, seine Aufgabe ist es aber, einen geordneten und friedlichen Übergang in die Nach-Milosevic-Ära zu gewährleisten. Und auch Europa ist jetzt gefragt: Ein verlorener Sohn, der nie Musterschüler war, sucht Familienanschluss." "La Vanguardia": Milosevic fällt Die spanische Tageszeitung "La Vanguardia" (Barcelona) kommentiert die Lage in Jugoslawien wie folgt: "Die Bilder aus Belgrad haben uns ins Jahr 1989 zurückversetzt, als die kommunistischen Regimes der Warschauer-Pakt-Staaten in Europa nacheinander wie die Steine eines Dominospiels zusammenbrachen. Bei den Fernsehbildern über die Besetzung des Parlamentsgebäudes in der jugoslawischen Hauptstadt haben die westlichen Bürger das Gefühl, schon einmal Demonstrationen wie die erlebt zu haben, die nun Slobodan Milosevic nach 13 Jahren an der Macht in die Enge treiben. Milosevic ist nach 1989 der letzte Stein, der noch zu fallen hat." "Rzeczpospolita": Wie 1989 Die konservative polnische Zeitung "Rzeczpospolita" schreibt zum Volksaufstand gegen Slobodan Milosevic: "Solche Szenen haben wir schon gesehen. Wir erinnern uns an sie aus dem Jahr 1989. Zehntausende Menschen, die für ihren Wunsch nach Freiheit auf den Straßen der mittel- und osteuropäischen Hauptstädte demonstrieren, Fernsehgebäude besetzen, Parlamente stürmen. Mit einem Wort - Revolution. Heute sieht die ganze Welt nach Belgrad. Endlich, zehn Jahre nach Warschau, Prag, Budapest, mit großer Verspätung, hat dort etwas begonnen - die wohl letzte demokratische Revolution im postkommunistischen Teil Europas... Eines wissen wir sicher: Nach Jahren des Ringens mit dem Regime geht Jugoslawien den Weg von Freiheit und Demokratie. Slobodan Milosevic, der Führer, der nur Krieg, ethnischen und religiösen Hass hervorrufen konnte, war schon lange ein Mann ohne Zukunft." "Gazeta Wyborcza": Serbien verdient Freiheit und Frieden Der einstige Bürgerrechtler und Chefredakteur der liberalen polnischen Zeitung "Gazeta Wyborcza", Adam Michnik, schreibt am Freitag zur Entwicklung in Jugoslawien in einem Kommentar "An die serbischen Freunde": "Milosevic ist der Fluch Serbiens. Dieser kommunistische Apparatschik kam vor 13 Jahren mit den Schlagwörtern eines großserbischen Chauvinismus an die Macht. Er begann einen Prozess, der Jugoslawien zerschlug, in mehrere Kriege führte, Tausende von Opfern forderte... Endlich verlor er die Wahlen. Als Antwort begann er die Fälschung der Ergebnisse, dann offene Gewalt. So kämpfen Diktatoren, die nicht verstehen, dass ihre Zeit abgelaufen ist. So kämpfte der rumänische Diktator Ceausescu um die Macht. Liebe serbische Freunde! Wir wünschen euch, dass das weitere Schicksal Serbiens den polnischen Weg einschlägt, und nicht den rumänischen - eine Revolution ohne Gewalt und keinen blutigen Konflikt. Serbien verdient Freiheit und Frieden." "Pravo": Milosevic wurde zum Mühlstein am Hals der serbischen Nation Die linksliberale tschechische Tageszeitung "Pravo" (Prag) meint: "Zehn Jahre hat Milosevic mit Gewalt und politischen Schachzügen seine Position halten können. Zehn Jahre hat er den Serben solche Niederlagen wie das Abkommen von Dayton oder den faktischen Verlust des Kosovo als Sieg verkaufen können. Jetzt ist der Geduldsfaden gerissen - Milosevic wurde zum untragbaren Mühlstein am Hals der serbischen Nation. Wie immer sich die Situation entwickeln wird: Mit seiner Rücktrittsweigerung hat Milosevic zwar einen Kardinalfehler begangen, aber mit seiner Entscheidung, mit Panzern gegen das eigene Volk vorzugehen, hat er alles verloren." "Lidove noviny": Wohin geht das neue Jugoslawien? Die konservative tschechische Tageszeitung "Lidove noviny" schreibt: "Alles deutet darauf hin, dass Milosevic gestürzt ist - wenn nicht heute, wird er es mit Sicherheit in den kommenden Tagen geschehen. Dann werden sich die Straßen von Belgrad leeren, das Tränengas wird sich verziehen und das Volk wieder sein normales Leben führen. Und die Politiker werden entscheiden müssen, welchen Weg Serbien, Montenegro und Kosovo gehen. Hoffen wir, dass er in Richtung Europa führt. Denn die Rückkehr Jugoslawiens in die Familie der freien Nationen wäre ein weiterer Schritt zur Beendigung der Teilung Europas." "Iswestija": Slobodan Milosevic hat verloren Die russische Tageszeitung "Iswestija" meldet: "Slobodan Milosevic hat verloren. Durch den Mund von Außenminister Igor Iwanow hat sich Moskau, das bisher gegenüber Milosevic Loyalität gewahrt hatte, von ihm faktisch losgesagt. Iwanow hat Vojislav Kostunica zum Sieg bei der Präsidentschaftswahl beglückwünscht und ihn als legitimen Staatschef Jugoslawiens anerkannt. Der Verlust Russlands war für das Milosevic-Regime eine wahre diplomatische Katastrophe." "Komsomolskaja Prawda": Auf dem Balkan engagieren "Ja, wir sind in den Zug eingestiegen. Aber in den letzten Wagen. Und die Gefahr existiert, dass die Sieger sich lange daran erinnern werden (...) Die politische Dividende aus der Mission Iwanows wird vielleicht nicht ausreichen, um sich auf der Ebene einer entscheidenden Mitbeteiligung an den Angelegenheiten der Region zu behaupten. Man kann aber mit Sicherheit annehmen, dass wir trotzdem bestrebt sein werden, uns weiter auf dem Balkan zu engagieren." "Rossijskaja Gaseta": Stille Revolution "Eine 'stille Revolution' hat sich vollzogen. Damit wurde ein Schlussstrich unter die Herrschaft des Slobodan Milosevic gezogen. Die Konfrontation zwischen der Führung und der Opposition erreichte am Donnerstag ihren Höhepunkt. Die Protestaktion von Tausenden von Anhängern Kostunicas in der Hauptstadt mündete in eine spontane Machtergreifung." "Kommersant": Putin gratulierte Kostunica "Der Aufstand in Jugoslawien endete mit dem Sturz des Regimes von Slobodan Milosevic. Das veranlasste Moskau zu einer einschneidenden Korrektur seiner Position, und Präsident Wladimir Putin gratulierte Kostunica zum Sieg. Durch die Anerkennung des Führers der Opposition hat Russland die Gefahr eines Bürgerkrieges im Land wesentlich vermindert." "Sewodnja": Slawische Brüderlichkeit an den Westen verkauft "Die Rechten begrüßen den Sturz von Milosevic, die Linken brandmarken die nach 'Schnaps, Marihuana und Dollars riechende Orgie'. Die Rechten sagen, Russland habe jetzt die Chance, normale, nicht ideologisierte Beziehungen zu Jugoslawien herzustellen. Die Linken meinen, Russland habe die 'slawische Brüderlichkeit' an den Westen verkauft. Schon morgen können sich all diese Vorwürfe gegen den Kreml richten. Den größten Vorteil scheint der Westen aus der Belgrader Revolution zu ziehen." (APA/dpa)