Bühne
Gier nach vollen Plattentellern
Pop 'till you drop: Wie das Theater die neueste Jugendkultur entdeckt hat
Wien/Klagenfurt - Wo, bitte schön, bleibt im Theater die Gegenwart? Die schnelle, vielgestaltige, fragmentarisierte Gegenwart? Wo ist der ästhetische Zugriff auf mediale Wirklichkeiten, wo sind die zeitgeistigen Angebote für eine Generation, die wie Staubkörner auf interaktiven Bildschirmen klebt?
Da Theater zwangsläufig im Hier und Heute stattfindet, scheint es die Gegenwart ganz einfach vergessen zu haben. Aber halt, da war doch noch etwas! Es nennt sich "DJ-Kultur" und schielt manchmal auch auf die Bühne. Oder schielt das Theater auf die DJ-Kultur? Eines steht jedenfalls fest: Auch Theater möchte "cool" sein; auch Theater will zwischen den Medien "switchen", die Realitäten montieren und hin und wieder einfach Spaß haben.
Natürlich nicht im großen Saal. Der Eingeweihte nimmt den Volkstheater-Hintereingang, steigt viele endlose Stufen hoch bis unters Dach und dann: laute Beats, hektische Aktionen und ein Kauderwelsch aus Gossensprache und Popversatzstücken, das die Ohren zum Glühen bringt.
Disco Pigs
ist angesagt, ein kultiges Zweipersonenstück des Iren Enda Walsh, überall in Europa bereits von auf jugendlich getrimmten Theatern gespielt. Das junge Regietalent Martin Schulze, gerade dem Seminar entronnen, stellt seine zwei Outlaws, die sich Schwein und Ferkel nennen und durch Pork Shitty, pardon, Cork City ziehen, auf eine weiß gestrichene Möbellandschaft. Großmütter hätten mit dem Mobiliar ihre Freude, hier dient es als Klettergerüst und als Ikone eines vergangenen Lebens. Einer zerkratzten Schallplatte gleich.
Doch
Disco Pigs
ist weniger Retro-Stück, eher ein in die Länge gezogener Videoclip zu einem
Smashing-Pumpkins
-Song, mit wohldosierten Chill-out-Phasen. Ein geschickt gemachtes Stück: Denn während die zwei reden und reden, ohne Zwischentöne, immer nur mit maximaler Energie, während sie schlagen und speien, beschreiben sie: ihr Leben, ihren Sex, ihre Disco. Ohne Sozialkritik, aber so, dass sozialkritische Geister fündig werden.
In der deutschsprachigen Erstaufführung von Thomas Ostermeier in der Berliner Baracke spielte ein Schlagzeuger auf der Bühne. Im Volkstheater werden Platten eingespielt. Ein DJ am Bühnenrand wäre noch passender gewesen, einer, der pitcht und scratcht, die Inkarnation aller postmodernen Theoreme. Zugegeben: Schulzes famose Inszenierung, seine aufgekratzten Schauspieler Anna Franziska Srna und Christoph Zadra (beide ein Hit!) brauchen eine solche Gestalt nicht, denn wofür sie stünde, liegt gut sichtbar auf der Oberfläche des Stücks verborgen. Der Sprach-, Pop-, Werbe- und Mattscheibenalltag ist Stoff; man muss ihn nur richtig montieren.
Heavy Rotation
Pleasures
, von denen die Kulturwissenschaften bei der Verwertung des Populären zu berichten wissen, stellen sich dann von selbst ein. Oder auch nicht: Die kürzlich in Klagenfurt gezeigte Identitätssatire
Gott ist ein DJ
von Falk Richter, die alsbald auch im Wiener Künstlerhaus zu sehen sein wird, arbeitet mit ähnlichen Methoden - ja, die Platte dreht sich hier noch etwas schneller. Zwischen (Fernseh-)Show und Realität ist nicht mehr zu unterscheiden, das Pärchen in dieser Big-Brother-Situation (Richter schrieb sein Stück Anfang '99!) ist ein Pop-Klon, das sich für ein Kunsthallen-Projekt in seinem Alltag filmen lässt.
Leider ist in der Regie von Evelyn Fuchs nicht mehr recht feststellbar, ob es sich hier um Menschen oder Puppen handelt. Damit wird alles einerlei: Simulakren all überall. Richters geschicktes Vexierbild arbeitet eher damit, wie das eine ins andere umspringt. Das Theater und seine DJ's: Als die Kritische Theorie auch über das Theater wachte, galt Popularkultur allgemein als Manipulationsinstrument. Entlarven: ja, an den Lüsten teilhaben: nein. Alles passé?
Man kann dagegen auch so weit gehen wie der Pop-Theoretiker John Fiske, der Popularkultur als "die Kultur der Unterdrückten" bezeichnet, "die sich gegen ihre Unterdrückung wehren". Heillos übertrieben? Das Theater sollte sich einfach nehmen, was es braucht. Und das ist doch einiges.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. 10. 2000)