Bis auf weiteres muss davon ausgegangen werden, dass Jugoslawien einen neuen Präsidenten hat und eine neue Phase seiner Geschichte beginnt. Das bringt natürlich eine lange Reihe von Aufgaben und Fragen mit sich, mit denen der neue Präsident und seine Mannschaft konfrontiert sein werden, von denen einige ebenso heikel wie lebenswichtig für die unmittelbare Zukunft sind.

Andere stellen sich dem Westen angesichts der neuen Sachlage und der Tatsache, dass er sich in allen wesentlichen Fragen, die Serbien heute betreffen - Kosovo, Montenegro, Opposition - bereits engagiert hat und somit mitspielt.

Erstere betreffen Serbien selbst. Niemand kann von Kostunica, als unmittelbarem Nachfolger des Tyrannen, erwarten, dass er von heute auf morgen aus Serbien einen demokratischen Staat machen könnte, in dem die Gesellschaft entsprechend agieren würde. Voraussetzungen zu schaffen für einen funktionierenden Rechtsstaat, wird hingegen - vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des Juristen Kostunica - Priorität haben. Nicht erwartet werden kann, dass Kostunica jetzt eine innenpolitische Sprache anwenden werde, die das Selbstverständnis des serbischen Volkes unmittelbar infrage stellt - im Gegenteil.

Medienfreiheit erster Schritt

Es ist anzunehmen, dass er, ohne die patriotische Essenz der Emotionen anzutasten, ihnen sehr wohl die chauvinistische, die rassistische Spitze zu nehmen trachten wird, die zu Milosevic' Zeiten für andere Völker, für Nichtserben, tödlich oder lebensgefährlich war. Es wird daher wohl auch nicht zu seinen ersten Schritten gehören, einen Prozess einzuleiten, den wir "Vergangenheitsbewältigung" nennen. Wohl aber wird es schnell zu einer normalen Medienfreiheit kommen. Und das kann der Weg zur "Wahrheit" über die unmittelbare, vielleicht auch die fernere Vergangenheit werden.

Es wird eine unglaublich schwierige und wesentliche Aufgabe sein, die Wunden, die die Serben durch die Politik des Milosevic sich selbst zugefügt haben, nicht anzutasten und ihnen andere, die von außen durch die Isolation und die westliche moralisch-politische Verurteilung verursacht wurden, nicht zu vertiefen, sondern sie einer Heilung zuzuführen. Ein solcher Prozess wird zweifellos unterstützt durch das Bewusstsein, dass "die Opposition" nun doch den politischen Wechsel zustande gebracht hat.

Westen ignorierte bisher Opposition

Sie war zwar in der Tiefe des Bewusstseins eines großen Teils der Bevölkerung - nicht nur der Städte - seit dem Beginn der aggressiven Politik der Milosevic-Regierung vorhanden gewesen, aber im Westen fand sie in der ersten Phase keine Resonanz. Dort wurden 1992 weder die 30.000 protestierenden Studenten noch die Weigerung von etwa 300.000 Reservisten, dem Ruf des Militärs zu folgen, zur Kenntnis genommen. Auch die zahlreichen und hartnäckigen Kundgebungen der "Frauen in Schwarz" seit Beginn des Mordens beeindruckten die Politiker des Westens nicht. Es wurde immer wiederholt: Milosevic wird von der serbischen Bevölkerung unterstützt, und es gibt dort keine Opposition.

Damit rechtfertigte der Westen seine Politik in den Jahren des Krieges in Bosnien-Herzegowina, seine direkte oder indirekte Stütze für ein Serbien als "Stabilitätsfaktor" und das zu Zeiten des Slobodan Milosevic. Ungewollt hat dieser westliche Umgang mit Milosevic der Opposition in diesem Land den Wind aus den Segeln genommen.

In einem Land der staatlichen Mediendiktatur, das außerdem kein Vorbild für eine konstruktive Opposition besaß, führte das zu einer politischen Agonie. Kritische Intellektuelle in Belgrad konnten relativ ungestört in einer begrenzten Öffentlichkeit - die vom Regime als ungefährlich eingestuft worden war - ihre Meinungen äußern, im Westen aber wurden auch diese Töne nicht im politischen Sinne vernommen.

Als Milosevic schließlich vom Tribunal in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt und seine Verhaftung verlangt wurde, löste sich der Knoten - die Opposition wurde aktiv.

Wenn davon die Rede ist, dass das serbische Volk zur "Normalität" zurückfinden müsse, dann sollten auch wir im Westen uns vor Augen halten: Serbien ist zwar europäisch, aber nicht mitteleuropäisch - seine Wunden werden langsamer heilen als die unseren nach zwei Weltkriegen.

Nun zu Montenegro: Es lässt sich voraussehen, dass Montenegro im selben Moment, wo es ein Serbien demokratischen Stils gibt, kein brennendes Bedürfnis mehr haben müsste, sich à tout prix vom großen Bruder lösen zu wollen. Ein friedlicheres Klima zwischen den beiden Seiten wäre auch ein kleines Pflaster auf die Wunde der serbischen Seele.

Der Kosovo ist schließlich ganz zweifellos die größte Klippe, die ein neues Serbien zu bewältigen hat. Und hier wird das Verhalten des Westens ein entscheidender Faktor sein. Das schlimmste Szenario - für Serbien und den Kosovo, für Serben und Albaner - wäre, wenn die internationale Gemeinschaft - wie sie so schön genannt wird - den Schluss ziehen würde, dass jetzt, wo Serbien demokratisch ist, die beiden Gegner selbst eine Lösung finden können und deshalb ihre physische und politische Präsenz überflüssig sei.

Gefahr droht durch den Kosovo

Das Problem Kosovo ist - nicht ganz ohne Mitverantwortung der westlichen Maßnahmen und Unterlassungen - heute derart verfahren, dass kein Kostunica in der Lage sein kann, eine Lösung aus dem Ärmel zu schütteln, die den Frieden der Region in einer übersehbaren Zukunft sichern würde. Ihm diese Aufgabe zuzuspielen, wäre eine politische Falle, die sich als tödliche erweisen könnte. Der Westen wäre zweifellos gut beraten, wenn er von vornherein klar zu verstehen geben würde, dass er bis auf weiteres seine Positionen auf keine Weise zu ändern beabsichtige. Ein bloßer Verdacht in diese Richtung könnte sonst Folgen haben, die nicht mehr in den Griff zu bekommen wären.

Ganz allgemein wäre Zurückhaltung von westlicher Seite gegenüber dem Phänomen des Siegers Kostunica sicherlich ein Gebot dieser außergewöhnlichen Stunde; außergewöhnlich, weil ein unnatürlicher Zustand, der zehn Jahre dauerte, mit diesem Wahlausgang beendet wurde. Wir könnten gelernt haben, aus Erfahrungen in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina, in Albanien, im Kosovo: Wir haben zwar helfen können, Kriege und Unruhen zu überwinden, aber wenn es um die innere Entwicklung dieser Länder geht, können wir kaum behaupten, eine glückliche Hand bewiesen zu haben.

Christine von Kohl, Publizistin, ist Leiterin des "Kulturni Centar" (Österreichisch-bosnisch-herzegowinischer Kulturverein) in Wien.