Graz - Mit einer Rede der Schriftstellerin Marlene Streeruwitz wurde Freitag Abend in Graz der "steirische herbst" eröffnet. Anders als in den vergangenen Jahren wurde unter dem neuen Intendanten Peter Oswald auf Politiker-Reden verzichtet. "Haben. Sein. Und werden." nannte Marlene Streeruwitz ihre, wie sie es bezeichnete, "Predigt". Thema der Rede: Der politische Text und sein Umgang mit der Wahrheit: "Der politische Text mit seinen Methoden der semantischen Verschiebungen, der Auslassung, der Umbenennung, lügt", so Streeruwitz. Umbenennung vom Menschen zum Nichtmenschen Erst durch den sprachlichen Akt der Umbenennung werde der Mensch zum Nichtmenschen, so Streeruwitz. Als Beispiele nannte die Autorin Menschen, denen nach der Diagnose "Hirntod" Organe entnommen werden dürfen, oder jene Menschen, denen im Bosnienkrieg das Herz bei lebendigem Leib herausgeschnitten wurde: "In beiden Fällen wird die Person durch einen sprachlichen Akt der Umbenennung vom Menschen zum Nichtmenschen: Im Falle der Explantation durch die Feststellung des Hirntods. Im Bosnienkonflikt war es die Definition der Nationalität". Bereithaltungskategorie SozialschmarotzerIn Die Wirklichkeit des zu Explantierenden finde außerhalb der Gesellschaft des politischen Textes unserer Gesellschaft statt: "So erfüllt der Sozialschmarotzer als Kategorie eine appellativ rhetorische Funktion. Der Sozialschmarotzer ist eine Bereithaltungskategorie, aus der jederzeit und beliebig Unterkategorien zur Zugangsbeschränkung fabriziert werden können. So sind Studenten und Studentinnen, die zwar keine adäquaten Studienbedingungen vorfinden und deshalb länger studieren müssen, keine Studenten und Studentinnen mehr, wenn sie nicht die Benennung Studiengebührenzahler erfüllt haben, indem sie Studiengebüren bezahlen", führte Streeruwitz in Hinblick auf die aktuelle Diskussion aus. Der politische Text müsse immer "Heilstext" sein und will sich von einer alles erklärenden Weltsicht herleiten: "In Österreich ist das immer ein Heilsversprechen. Ist das in der Ableitung von Predigt und Verordnung. Und jeder Text außerhalb dieser Kategorie war und ist schon Gegentext und unterliegt darin schon einer internalisierten Zensur". Politischer Text beschreibt Prozesse wie Emanzipation nicht Weiters betonte Streeruwitz, dass jeder Text eine Auswahl aus allen Sinneinheiten, die möglich sind, trifft. "Was in einem Text vorkommt und was ausgelassen ist, schafft die Bedeutung des Textes. Wird dieser Text nun mit der Intention politischer Macht verfaßt, dann wird diese Auswahl oder Auslassung existentiell. (...) Benennt der politische Text Gruppen nicht. Wie Frauen. Oder beschreibt der politische Text Prozesse wie Emanzipation nicht. Dann existieren diese Sinneinheiten auf der Text- und Symbolebene nicht. Und dann existieren sie in dieser Form auch in der Wirklichkeit nicht". Kunsttexte Ein Verstummen "im Fall zwischen alle Wirklichkeiten" sei nur durch Kunst zu verhindern, schloß Streeruwitz: "Es gibt keine andere Möglichkeit als Kunst, Kunsthandeln, Kunstreden. Kunsttexte, die auf nichts verweisen als auf ihre eigene Wirklichkeit. Die ihre eigene Wirklichkeit sind. (...) Warum den politischen Text nicht durch den Kunsttext ersetzen. Warum nicht die Unmöglichkeit des Ganzen zugeben und darin die eigene Wirkung begründen, Wirklichkeit erfahrbar zu machen. Das heilt nicht. Das rettet nicht. Das erhebt nicht. Aber es lügt nicht. Und es tut auch nicht weh. Und vielleicht wird das Sprechen dann schwieriger und müßte jedesmal neu sein und könnte immer nur sich sagen. Aber vielleicht können wir dann beginnen, uns Vorstellungen über eine andere Sprache zu machen. Vielleicht können wir dann beginnen, eine Sprache zu entwerfen, die wir heute gerade nur in ihrer Nochnichtmöglichkeit ahnen können." (APA)