Welt
Wie das Gehirn mit sich spricht
Schlüsselrolle von Neurotransmittern schrittweise erhellt
Stockholm/Wien - Drei Hirnforscher - der Schwede Arvid Carlsson, der US-Amerikaner Paul Greengard und der
österreichische Emigrant und US-Bürger Eric Kandel - erhalten den diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin "für
ihre Entdeckungen betreffend ,Signalübertragung im Nervensystem'".
Die ist für alle drei besonders im Gehirn interessant, wo die Zellen über eine Fülle chemischer Signalstoffe
("Neurotransmitter") miteinander kommunizieren. Die Rolle von einem - Dopamin - hat Pharmakologe Arvid Carlsson in den
50er-Jahren an Tieren entschlüsselt: Blockiert man die Aufnahmeorgane ("Rezeptoren") für Dopamin in einer Hirnregion, die
für Bewegung zuständig ist, verlieren Tiere ihre Bewegungskoordination. Versorgt man sie dann mit einem Dopamin-Vorläufer
(L-dopa), gewinnen sie die Herrschaft über sich zurück. Das war die Geburtsstunde für L-dopa als Therapie für die
Alterskrankheit Parkinson.
Papst und Mastermind
An diesem so grundsätzlichen wie groben Bild der Neurotransmitter konnten Greengard und Kandel anknüpfen und in die
Details vordringen. "Sie haben viel zusammengearbeitet", erinnert sich Sigismund Huck (Institut für Hirnforschung, Uni Wien)
gegenüber dem STANDARD, "und während Greengard der ,Papst der Phosphorelierung' wurde, war Kandel der ,Mastermind',
der die Ideen lieferte."
Greengard hat die Analyse auf chemischer Ebene verfeinert - er zeigte, dass Phosphorgruppen eine Zentralrolle bei den
Signalen spielen -, Kandel hat sie auf die molekulare Ebene getrieben und für die Gedächtnisforschung fruchtbar gemacht:
"Wenn Sie nachher in Ihre Redaktion gehen, haben Sie die Hälfte schon vergessen", tröstete er vor Jahren im
STANDARD-Gespräch, "aber Ihr Gehirn wird sich verändert haben, ohne dass Sie es merken."
Es wird gewachsen sein, um neuen Raum für die Erinnerung zu schaffen. Wie dieser "switch" vom Kurzzeit- ins
Langzeitgedächtnis funktioniert, hat Kandel sein Forscherleben lang beschäftigt: "Er arbeitete erst mit der Meeresschnecke
Aplysia, deren neuronale Schaltkreise schon bekannt waren", erklärt Huck, "und konnte deshalb jeden Reiz auf molekularer
Ebene verfolgen." Dort sah er, dass bei starken Reizen - mit dem Botenstoff Serotonin - zwischen Nervenzellen neue
Verbindungen wachsen ("Synapsen"). Das legt die Brücke zwischen Genen und Langzeitgedächtnis: Zum Wachstum neuer
Synapsen müssen Gene aktiviert werden.
Gedächtnis-Pille
Und zwar nicht nur bei der Meeresschnecke. Später fand Kandel denselben Mechanismus - und dieselben mitwirkenden
Gene - bei Fruchtfliegen und Mäusen, was nahe legt, dass Menschen dasselbe evolutionäre Erbe im Kopf tragen. "Eines
Tages werden wir neue rote Pillen entwickelt haben, die den altersbedingten Schwund des Langzeitgedächtnisses aufheben.
Ich schätze, wir sind in fünf bis acht Jahren so weit", zeigte er sich im STANDARD-Gespräch voll Hoffnung. Noch liegt er im
Zeitrahmen, er gab seine Prognose im Jahr 1994.
Überwältigt
Arvid Carlsson, emeritierter Pharmakologie-Professor der Universität Göteborg, zeigte sich von seiner Ernennung zum
Medizin-Nobelpreisträger "überwältigt". Die praktische Bedeutung seiner Entdeckung des Dopamins als Signalsubstanz im
Gehirn kommentierte er als "damals revolutionär für die vorbeugende Behandlung von Parkinson". Er betrachte seinen Teil des
Nobelpreises aber auch als Anerkennung seiner weiteren Arbeit: "Wir haben ja zu weiteren Fortschritten bei der Arbeit mit
Signalstoffen beigetragen, die zu besseren Behandlungsmöglichkeiten von Schizophrenie und anderen mentalen Krankheiten
führten." Carlsson wurde 1923 in Uppsala geboren, studierte in Lund und wurde 1959 in Göteborg Professor für
Pharmakologie. Seit 18 Jahren ist er der erste Schwede, der mit einem wissenschaftlichen Nobelpreis ausgezeichnet wird.
Paul Greengard vom Laboratory of Molecular and Cellular Neuroscience an der Rockefeller University, New York, wurde
ausgezeichnet für seine Entdeckung der Einwirkungen von Dopamin und einer Reihe anderer Signalsubstanzen auf das
Nervensystem. Er wurde 1925 in New York geboren und promovierte an der Johns Hopkins University in Baltimore. Zwischen
1953 und 1959 machte er ein Postdoc-Studium der Biochemie in London, Cambridge und an den National Institutes of Health
in Bethesda. 1959-67 war er Direktor der Abteilung für Biochemie bei den Geigy Forschungslabors in Ardsley, NY, von
1968-83 Professor für Pharmakologie und Psychiatrie an der Yale University School of Medecine (New Haven, CT). Seit 1983
ist er Leiter des Laboratory of Molecular and Cellular Neuroscience an der Rockefeller University in New York.
Unglaublich
"Das ist eine aufregende und ganz unglaubliche Auszeichnung - nicht nur für mich, sondern auch für das ganze Feld, in dem
ich gearbeitet habe," erklärte der in Österreich geborene Eric R. Kandel (70) Montag in einer ersten Stellungnahme. Er
verdanke Wien natürlich seine Interessen, z. B. für Musik, habe aber trotzdem "gemischte Gefühle". "Österreich ist nicht so
offen mit seiner Geschichte umgegangen. Deutschland war da ehrlicher, aber Österreich macht Fortschritte", sagte der
Wissenschafter, der 1939 mit seinem Bruder aus Wien fliehen musste. Kandel kam über die Psychiatrie zur
Neurophysiologie, weil er Psychoanalytiker werden wollte. Von 1965-74 war er a.o. Prof. an der New York University
(Abteilung Physiologie und Psychiatrie), 1974 wurde er an der Columbia University zum Professor ernannt, 1983 bekam er ein
Ordinariat.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. 10. 2000)