Robert Haidinger "Edle Wilde" gab es vor gut hundert Jahren noch viele. Vor allem in den Köpfen der europäischen Intellektuellen und Bohemiens, die, wie der französische Maler Paul Gauguin, von Tropenateliers im nordvietnamesischen Tonkin, wenig später vom Künstlerexil auf Martinique oder Madagaskar träumten. Und von Früchten, die einem dort von selbst in den Mund wuchsen. Dabei hätte der bereits als Kind weitgereiste, in Peru, Nordamerika und auf diversen Weltmeeren aufgewachsene Impressionist eigentlich vorgewarnt sein müssen, als anno 1886 und in seiner Vorstellungswelt das Bild vom Paradies an einer völlig anderen Ecke der Erdkugel auftauchte. "Dort in Tahiti, im Schweigen der schönen tropischen Nächte, will ich lauschen auf die holde Musik meines Herzens, in Liebe und Harmonie eins mit den geheimnisvollen Menschen, die mich umgeben", schrieb Paul Gauguin nach der Lektüre des romantischen Romans "Le mariage de Loti" enthusiastisch - und meinte das durchaus ernst. Kurze Zeit später hantierte der französische Maler, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr mit diversen Ausstellungen begangen wird, nämlich bereits an einem traditionellen polynesischen Erdofen herum. Leider erfolglos. Was brannte, war die Sonne der Südsee. Und vielleicht auch der leere Magen. Denn ganz stimmte der Traum vom tropischen Schlaraffenland auch in Maitea, einem fünf Fahrstunden von Papeete entfernten Dorf nicht mit der Realität überein. Drei Monate brauchte Gauguin, um sich zumindest aus dem frankophilen Hauptort, den er Anfang Juni 1989 erreicht hatte, Richtung Landleben zu verabschieden. Mit abgeflachter Reisekasse übrigens, und auch um einige Illusionen ärmer. Der französische Lebensstil gestaltete sich in Papeete teurer als in Paris, die letzten tahitischen Häuser der kleinen Hafenstadt waren nach einem Brand im Jahre 1884 zweitklassigen Kolonialbauten gewichen, und die legendären Tahitierinnen - Gauguins potentielle Modelle - versteckten sich unter langen, weiten Gewändern. Diese Ernüchterung setzte sich zunächst eben auch in Maitea fort. Klar, der Blick auf die gegenüberliegende Insel Moorea, mit ihren Bergen, die wie grüne Haifischzähne nach oben ragen, und die angemietete Hütte am Pazifikstrand hatten schon ihre Reize. Doch andere Details paßten weniger. Das aus Paris mitgebrachte Jagdgewehr erwies sich in Ermangelung an Wild als nutzlos. Fischen stellte sich als komplizierte Fertigkeit heraus, und Tahitis Wildbananen wuchsen nur hoch oben, in weit entfernten Gebirgsgegenden. Die Geldwirtschaft beschränkte sich auf Kopra. Und zu allem Überdruß war da auch noch der verfluchte Erdofen. Schließlich half Maiteas chinesischer Händler dem Maler mit Proviant aus, und ähnlich günstig erwies sich die Bekanntschaft mit seinem späteren tahitischen Schwiegervater am anderen Ende der Insel: Nachdem Gauguins anglo-tahitische Freundin Titi, angeödet vom rustikalen Landleben, eiligst nach Papeete zurückgekehrt war, und die meisten Frauen des Dorfes wenig Interesse zeigten, dem Maler Modell zu stehen, verheiratete dieser Koki, wie Gauguin von den Einheimischen genannt wurde, mit seiner 13jährigen Tocht er Tehaámana. Endlich scheint die Frustrationen der ersten Monate überwunden, und Tehaámana mag dabei getrost als hübschere Version des Crusoeschen Freitag in die Kunstgeschichte eingehen. Sie fischt, sammelt, kocht (am Erdofen), und - steht Modell. Koki skizziert, malt, denkt sich für seine später berühmt gewordenen Tahiti-Bilder die damals längst schon verbreiteten Brustbedeckungen weg, und "übersieht" in seinen Dorfszenerien geflissentlich etwaige westliche Elemente. In den 18 folgenden Monaten entstehen über 100 Gemälde, 20 Skulpturen, zahllose Zeichnungen und Aquarelle, kurz: ein Sechstel seines malerischen Gesamtwerks. Tahiti, gut 100 Jahre später. Das Klischee, das lange vor Gauguin schon Seefahrer (inklusive Captain Cook und die Meuterer von der "Bounty") genährt, und das Generationen von Schriftstellern (wie James Michener) kultiviert hatten, hat weiterhin an Kontur gewonnen - und sorgt so für skurrile, sonderbar zweidimensional anmutende Skizzen der verordneten Südwehfiktion. Collagen davon finden sich fast überall: Mit starken, tätowierten Armen tragen etwa zwei Tahitianer französische Ausflügler vom Auslegerboot auf den trockenen Strand (oder zur 300-Dollar-Hütte), und später tanzen einige hollywoodreife Südseeschönheiten termingerecht zur abendlichen Pazifikflaute über die Touristenbühnen der Hotels. Genauso wie in den Souvenirregalen der Duty Free Shops sehen die Gastarbeiterinnen aus Samoa und anderen Nachbarinseln aus: Baströckchen, barfüßig, weiße Muschelketten, Blüten im Haar und zwei halbe Kokosnußschalen als BH. Hinterher werden mit Fackeln Feuerkreise in die Nacht gezeichnet - nach dem fast endgültigen Niedergang der tahitischen Tanzkultur im 19. Jahrhundert erinnern sich nun Hotelmanager an das verlorene Potential dieser alten polynesischen Kunstform. Gauguin, Spielberg, Otto Normalverbraucher. So lautet die Magistrale der Fiktion, die diesem Tahiti zugrunde liegt. Außer, daß statt Hermelinpinsel jetzt Pocketkameras gezückt werden, oder aber Trauringe: Großer Hochzeits-Tamtam vor tahitischer Phantasy-Kulisse plus angeschlossener Flitterwoche zählt etwa zu den erfolgreicheren Special-Interest-Offerten der lokalen Tourismusindustrie. Und der geht es, verglichen mit den sieben Millionen Hawaii-Touristen nicht übermäßig gut. Rund 170.000 Gäste besuchen die zwei Flugtage oder aber zumindest 18.000 km von Europa entfernte Hauptinsel der Französischen Gesellschaftsinseln. Dreimal soviele Gäste wären erforderlich, um die hartnäckig geforderte Unabhängigkeit von Frankreich ohne finanzielles Fiasko zu überstehen. Doch keine Trauminsel ohne Albtraum. Die tägliche Blechverstopfung in Papeetes Straßen zählt längst zu den kleineren Sorgen. Schlimmer ist wohl der Kulturverlust der heutigen Generation, zu dem nach vielen Jahrzehnten des verbotenen Sprachgebrauchs auch der Verlust der Muttersprache zählt: ein bißchen französisch, ein wenig amerikanisch, einige Brocken tahitianisch und viel Slang ersetzen diese mehr schlecht als recht. Welche Tätowierung was bedeutet, wissen Tahitis Kids schon lange nicht mehr. Die Zeiten, zu denen das Lebens eines Mannes an seiner Haut ablesbar war, sind längst Geschichte. Gegenwärtiger sind da schon die ökonomischen Probleme und Tahitis Unsicherheit über die Pläne der weit entfernten Pariser Politiker. Nach dem Abzug der französischen Nuklear- tester vom rund 1000 km weiter südöstlich gelegenen Mururoa-Atoll und dem allmählichen Versiegen der französischen Schweigegeldzahlungen (ein Drittel des tahitischen BNP stammt von Frankreich), verschärfen sich nun auch die sozialen Konflikte innerhalb der pazifischen Inselgruppe. Längst flüchteten viele Tahitianer angesichts enormer (Grundstücks-)Preise auf die gegenüberliegende Insel Moorea, die die Funktion eines Suburbs von Papeete übernommen hat. Nur die Lage der heutigen Wellblechhütten, stets direkt am schwarzsandigen Lavastrand, hat sich seit der Erfindung des Tahiti-Mythos nicht wirklich verändert, und ähnliches gilt für das tropische Inselinnere der Landschaft. Berge, grün, steil. Stop. Botanische Gärten. Stop. Wasserfälle, donnernd. Stop. Postkartenidyll. Stop und Ende. Denn wozu aufwendiger beschreiben, wo doch alles aufgepinselt ist? © DER STANDARD, 26./27. September 1998