Seit wir die Regierung haben, die wir jetzt haben müssen, gibt es die Debatte über deren demokratische Qualifikation. Juristisch ist ja alles klar: Die Wahl vor einem Jahr war korrekt, und die Mehrheit, die sich für die Regierungskoalition im Parlament gefunden hat, kam auch korrekt zustande.

Aber das erzeugt nach Auffassung der "Illegitimisten" nur formale Legalität. Die Kriterien dafür, was Demokratie inhaltlich ausmacht, hätten sich, wie Isolde Charim jüngst im Falter wieder betont, längst gewandelt. Das Mandat einer auf eine parlamentarische Mehrheit gestützten Regierung finde seine Grenze in legitimen sozialen Ansprüchen. Die moderne Demokratie bestehe aus der Verbindung der Momente: formales demokratisches Verfahren und soziale Gerechtigkeit; die Demokratie sei so, Zitat: "zum Sozialstaat geworden".

Folgt man dieser Ansicht, so handelt eine Regierung, die ihre formal-demokratischen, parlamentarischen Möglichkeiten nutzt, um gegen die Sozialpartner ihr Konzept des Nulldefizits durchzuziehen, in Wahrheit undemokratisch. Das sei Regress hin zu einer "Wahldemokratie", in der Verhandlungspartner wie Untertanen behandelt werden, schreibt Charim. Das Konzept eines formalen, also auf das Verfahren und nicht auf den Inhalt gesellschaftlicher Willensbildung abstellenden Demokratiebegriffes hat nie einen Mangel an Gegnern gehabt. Denn er kennt kein Tabu, das nicht Gegenstand öffentlicher Debatte und Abstimmung sein könnte.

Ausgehend davon, dass Werte und daraus abgeleitete Normen nicht wahr oder falsch sein können, sondern nur in oder außer Kraft gesetzt, bedeutet Demokratie eines von mehreren möglichen Verfahren, Werten in einer Gesellschaft Geltung zu verschaffen oder zu entziehen. Die wesentlichen Elemente eines solchen Verfahrens sind: öffentliche Diskussion und Meinungsbildung sowie Mehrheitsbeschluss mit allgemeinem und gleichem Stimmrecht.

Eine so verstandene Demokratie bietet an sich noch keine Gewähr für die Verwirklichung bestimmte ethischer Vorstellungen; das Ergebnis hängt ausschließlich von den teilnehmenden Akteuren und der Mehrheit, die sich unter ihnen findet, ab. Die formal konzipierte Demokratie verlangt daher von ihren Bürgern im Konflikt der Werte einen ethischen Spagat: an den Sinn und die Geltung der eigenen Ideologie, an das, was man selbst für gerecht hält, zu glauben und gleichzeitig dessen Relativität im demokratischen Willensbildungsprozess anzuerkennen. Christian Schwabe nannte das vor kurzem "das politische Dilemma der Pluralität".

Es ist Fundamentalisten schwer erträglich und nach der mit formaldemokratischer Hilfe erfolgten Machtergreifung Hitlers umso schwerer erträglich für Demokraten. Ja, auch die Abschaffung der Demokratie kann demokratisch beschlossen werden, wenn die Mehrheit nicht demokratisch gesonnen ist, und das österreichische Bundesverfassungsgesetz macht das auch (unter den erschwerten Bedingungen, die es für eine Gesamtänderung der Verfassung vorsieht) möglich.

Das zumindest theoretische "everything goes" des formalen Demokratiebegriffes schließt nicht aus, dass bestimmte Themenbereiche faktisch oder rechtlich der Majoritätsentscheidung entzogen werden. Das könnten zum Beispiel Minderheitenrechte sein, ein für die Mitgliedstaaten verbindlicher Wertekatalog der EU oder ein im Wege des Gewohnheitsrechts in Geltung gelangter antifaschistischer Grundkonsens, wie er von Isolde Charim und der Demokratischen Initiative behauptet wird.

Aber solche Einschränkungen ergeben sich nicht aus dem "Wesen" der Demokratie, sondern sind politisch motiviert und, solange sie nicht selbst auf einer demokratischen Mehrheitsentscheidung beruhen, nicht demokratisch legitimiert (sondern z.B. völkerrechtlich oder anders).

Die Art, wie Schwarz-Blau über die Sozialpartnerschaft formaldemokratisch treffsicher hinwegregiert, erregt auch außerhalb von Kammern und Gewerkschaften die Gemüter. Aber es ist noch gar nicht so lange her, da sahen viele ein Demokratiedefizit gerade darin, dass eben nicht die Abgeordneten zum Nationalrat, sondern die Sozialpartner und ihre demokratisch nicht gerade übertrieben legitimierten Funktionäre das eigentliche Sagen hatten. Man nannte das "Realverfassung", und wenngleich diese Art des Regierens zu bestimmten Zeiten ihre anerkannten Meriten für den Wiederaufbau des Landes und den sozialen Frieden gehabt haben mag, für demokratisch haben das damals eher nur jene Funktionäre gehalten, die selbst mitregieren durften.

Die Realverfassung bewirkte, dass Wahlergebnisse in Österreich nicht zu entsprechenden politischen Änderungen führten. Sie sorgte dafür, dass das meiste blieb, wie es war und hatte so auch zur Folge, dass der Wähler lernte, sich selbst nicht ernst zu nehmen. Statt seiner Stimme gab er seine Stimmung ab, ressentimentgeladen und nicht damit rechnend, dass das auch politische Konsequenzen haben kann. Jetzt hat's ihn erwischt. Dauernd hatte man ihm in der Propaganda erzählt, dass es auf ihn ankommt, und fast nie (Ausnahme Kreisky) war's wahr. Und nun plötzlich das!

Elitäres Misstrauen

Der Wähler muss umlernen. Denn seit neuestem kann es passieren, dass er kriegt, was er wählt. Wir sind tatsächlich eine Wahldemokratie geworden, und das birgt für Ungeübte natürlich auch Gefahren. Dies zum Anlass zu nehmen, um den formalen Demokratiebegriff als überholt abzutun, ist typisch für das Misstrauen von Eliten, die es - vielleicht wirklich - besser wissen und dieses Wissen der Mehrheit nicht zutrauen.

Die Wähler zwar zur Wahlurne zu schicken, ihnen aber nicht wirklich die Wahl zu lassen, hat allerdings dem rechtsextremen Auftrieb bis jetzt nicht Einhalt gebieten können. Vielleicht müssen sie sich erst die Finger verbrennen, damit sie lernen, auch ohne die Mama das Feuer zu meiden. Dass uns bei diesem Lernprozess nur nicht das Haus abbrennt.

Dr. Peter Warta ist Jurist und Publizist in Wien.