Bildende Kunst
"Suche nach dem Absoluten"
Lebensgefühl einer ganzen Epoche in Bronze. Große Giacometti- Ausstellung in Belgien
Seneffe/Brüssel - Wie kaum ein anderer Bildhauer hat es der
Schweizer Alberto Giacometti verstanden, das Lebensgefühl einer
ganzen Epoche in Bronze zu gießen. Anders als der verspielte
Alexander Calder oder der Ästhet Henry Moore zielte er direkt auf das
Selbstbild der Menschen, das durch den Zweiten Weltkrieg ins Wanken
geraten war. Als internationaler Auftakt für die Ausstellungen zum
100. Geburtstag Giacomettis im kommenden Jahr sind in dem belgischen
Schloss Seneffe bei Brüssel seit Sonntag rund hundert Skulpturen,
Gemälde und Zeichnungen des 1966 im schweizerischen Chur gestorbenen
Künstlers ausgestellt. Die Retrospektive, deren Leihgaben der
französischen Fondation Maeght anschließend nach New York und Zürich
weiterreisen, ist in Belgien bis zum 15. Jänner zu sehen.Überblick über rund 40 Schaffensjahre
Mit herausragenden Werken gibt die konzentrierte Präsentation
einen prägnanten Überblick über rund 40 Schaffensjahre des
Bildhauers, der vor allem durch seine überlangen Menschenfiguren
bekannt wurde. Arbeiten aus Privatbesitz wie zwei herausragende
Bildnisse der Mutter und des Bruders Diego fügen besonders bei den
Gemälden der Werkschau selten gezeigte Facetten hinzu.
Das intellektuelle Paris zwischen Exotismus und Existenzialismus
prägte Giacomettis Leben. Die riesige "Löffelfrau" (1926), rundliches
Symbol weiblicher Fruchtbarkeit, lässt ihr afrikanisches Vorbild
ebenso wenig übersehen wie das auf archaische Knappheit reduzierte,
fetischartige "Paar", das ganz mit dem Gegensatz der Geschlechter
spielt. Als letztes Meisterwerk der nur spärlich präsenten
surrealistischen Zeit Giacomettis gilt "Das unsichtbare Objekt" von
1934. Die schlanke und gedehnte Frauenfigur kündigt jenseits aller
Anleihen an gotische Madonnenbildnisse oder an die antiken Statuetten
der Ägäis bereits die Menschendarstellung als Leitmotiv Giacomettis
an.
Stelenartige "materielose" Menschenbilder mit schrundiger
Bronze-Oberfläche signalisieren Verletzlichkeit und Verstörtheit,
werden Kennzeichen des Nachkriegswerks. Der Philosoph Jean Paul
Sartre nennt 1948 das Schaffen Giacomettis die "Suche nach dem
Absoluten". Nach Ansicht vieler Kritiker verleiht der Schweizer der
Absurdität menschlichen Daseins bildlichen Ausdruck und gibt dem
Existenzialismus damit sichtbare Gestalt.
Geistige Dimension des Daseins
Ob es die vielfachen Variationen der Bronzen "Frau von Venedig"
sind oder der monumental auf dünnen Beinen "Schreitende Mann" von
1960: All diese Figuren drängen die körperliche Präsenz in den
Hintergrund, betonen die geistige Dimension des Daseins in
Einsamkeit. Individualität spielt selbst bei den Bronze-Bildnissen
von Freunden oder von Familie kaum eine Rolle. Beziehungslose
Gestalten bilden die Figurengruppe "Der Wald" (1950), deren kühle
Distanziertheit sich dem fast fröstelnden Betrachter mitteilt. Einen
hintergründig-absurden Humor offenbart der Schweizer einzig mit
seiner Katzenskulptur von 1951: Beinahe schwerelos huscht das
spindeldürre Bronzetier durch die Orangerie von Schloss Seneffe. (APA/dpa)