Seoul - Die 109. Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) vergab am Samstag in Seoul die 20. Winterspiele an die norditalienische Metropole Turin. Die Hauptstadt der Provinz Piemont setzte sich im Wahlfinale gegen den favorisierten Schweizer Wintersportort Sion überraschend klar mit 53:36 Stimmen durch. Damit finden zum zweiten Mal nach 1956 in Cortina d'Ampezzo Olympische Winterspiele in Italien statt. Ernüchterung hie, Freudentaumel da.
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Bereits im ersten Wahlgang waren in Seoul die Mitbewerber Klagenfurt, Helsinki, Zakopane und Poprad-Tatry/Slowakei auf der Strecke geblieben. Um 07.30 Uhr gab IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch das unerwartete Abstimmungsergebnis der 89 stimmberechtigten Mitglieder der Vollversammlung bekannt. Turin erhielt gleich bei seiner ersten Bewerbung den Zuschlag. Der Schweizer Ort Sion scheiterte dagegen auch bei seinem dritten Anlauf nach 1976 und 2002. Damals unterlagen die Walliser den amerikanischen Bewerbungen von Denver, das dann die Spiele an Innsbruck abtreten mußte, und Salt Lake City. Das sportliche Konzept der Turiner Olympia-Bewerbung sieht vor, daß die Eissportarten in der piemontesischen Hauptstadt, die Ski- Wettbewerbe in den Alpen, vor allem in Sestriere stattfinden.
Wut im Wallis: Auch dritter Anlauf vergeblich
Mit ungläubigem Entsetzen hat die Bevölkerung des Schweizer Kantons Wallis auf die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees reagiert. Die rund 15.000 Menschen, die den Wahlvorgang in Seoul am Samstag morgen auf einer Großbildleinwand im Zentrum von Sion (Sitten) mitverfolgten, brachen in laute Buh-Rufe aus, als IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch "Torino" sagte. Die Sion-Sympathisanten konnten die Niederlage kaum fassen
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Für die meisten Walliser war sofort klar: Das war Sions letzte Kandidatur. Das Wallis mit seinen Skigebieten hatte sich schon 1976 und 2002 vergeblich um die Olympischen Winterspiele bemüht. Die Einwohner von Sion und zugereiste Unterstützer der Kandidatur "Sion 2006" hatten sich bereits am Freitag abend versammelt, um gemeinsam zu feiern und das Ergebnis aus Seoul zu erwarten. Die meisten Walliser waren laut Umfragen bis zuletzt fest davon überzeugt, daß Sion diesmal den Zuschlag bekommen würde. "Bestechung, Mafia", riefen einige Jugendliche, nachdem das Ergebnis verkündet war. "Hier hat nicht der Sport gewonnen, sondern das Geld." Im Wallis fühlt man sich betrogen. Dem Volksfest in Sion, das nahtlos in eine Triumphfeier hätte übergehen sollen, wurde ein jähes Ende bereitet. Als Samaranch, IOC-Vertreter oder Vertreter der Turiner Kandidatur zu sehen waren, gab es Pfeifkonzerte. Transparente mit der Aufschrift «IOC = Mafia» wurden hochgehalten. Das Wallis fühlte sich betrogen.
Wird das IOC aus Lausanne vertrieben?
Der frühere FIS-Präsident Marc Hodler sah mehrere Gründe für die Niederlage von Sion. "Turin arbeitete bei den IOC-Mitgliedern systematisch mit dem Argument, gegen Sion zu stimmen und damit Hodler zu treffen. Das zweite Argument von Turin bestand darin, die Schweiz als Sitz von 18 internationalen Sportverbänden und dem IOC sei viel zu mächtig. Das dritte Argument von Turin lautete, Italien müsse endlich einmal wieder Olympische Spiele erhalten, nachdem es immer wieder leer ausgegangen sei. Eine Rolle beim Wahlausgang hat sicher auch gespielt, daß das IOC und Samaranch von der Presse in der Westschweiz auf unglaublich negative Weise behandelt wurden." Der 80jährige Schweizer hält weitere Folgen für das IOC für möglich. "Ich befürchte, daß wegen des Ärgers in der Schweiz nach diesem Wahlergebnis sogar das IOC aus Lausanne vertrieben wird."
Kurzporträt der Olympia-Region
Einwohner (Region): 2,222.265 Lage: Hauptort des Piemont; Industrie- und Wirtschafts-Metropole Budget: 10,1 Mrd. S (734 Mio. Euro) Bisherige Kandidaturen: - Bisherige Spiele im eigenen Land: 1956 Cortina d'Ampezzo (Winter), 1960 Rom (Sommer) Sportkonzept: Aufsplitterung auf neun Gemeinden (Eissport in der Großstadt, Skisport in den Bergen) Wettkampforte: Ski alpin: Sestriere, Bardonecchia und San Sicario Ski nordisch (Langlauf/Springen/Kombination): Pragelato Freestyle: Sauze d'Oulx Biathlon: San Sicario Eisschnellauf, Eiskunstlauf, Curling, Eishockey: Turin Snowboard: Bardonecchia Bob/Rodeln: Beaulard Olympisches Dorf: Turin (Subdörfer in Sestriere und Bardonecchia) Eröffnungs- bzw. Schlußfeier: Turin (Stadio delle Alpi) Hinter der italienischen Kandidatur steht der einflußreiche Industrie-Zar Gianni Agnelli (Fiat, Juventus, Sestriere), auch wenn er nicht offiziell dem Kandidaturkomitee angehört.
Reaktionen:
  • Dieter Kalt (Olympia-Manager Klagenfurt): "Wir sind enttäuscht, denn viele IOC-Mitglieder haben uns die beste Präsentation bestätigt. Aber anscheinend wollte man beim IOC unsere Botschaft nicht. Schon im Vorfeld gab es Anzeichen, daß es keine andere Möglichkeit gab. Wir sind mit unserer Kandidatur bei Null gestartet, doch heute wird in der ganzen Welt über Kärnten, Friaul-Julisch Venetien und Slowenien gesprochen. Die grenzüberschreitende Idee mit unserer Friedensbotschaft ist eine Werbetätigkeit, die durch Geld nicht aufzuwiegen ist. In sportlicher Fairness müssen wir die Entscheidung zur Kenntnis nehmen. Wir können auf unsere Bewerbung stolz sein, auch wenn wir das Finale nicht erreicht haben. Unser größtes Handicap war die Entscheidung vom 18. März in Lausanne, daß die IOC-Mitglieder die verschiedenen Regionen nicht mehr besuchen dürfen. Ich werde empfehlen, daß wir uns wieder bewerben und die großartige Idee fortsetzen."
  • Jörg Haider (Landeshauptmann Kärnten): "Es ist eingetroffen, was ich erwartet habe. Leider ist nicht der Bewerber mit der besten Präsentation zum Zug gekommen. Wir sind mit unseren bestechenden Argumenten von grenzüberschreitenden Spielen in einer kriegerischen Zeit nicht durchgedrungen. Klagenfurt war mit der guten Präsentation die große Überraschung. Wir sollten weiter kandidieren und internationale Sportveranstaltungen an uns ziehen. Der Friedengedanke ist in der jetzigen Situation eine gute Basis."
  • Franz Klammer (ÖSV-Abfahrtslegende): "Wir sind sehr enttäuscht, daß unser Konzept nicht angenommen worden ist. Auch wenn Nein gesagt wurde, ist es für Klagenfurt ein weiteren Versuch wert. Eine neue Kandidatur macht Sinn, ich würde auch gerne wieder als Zugpferd zur Verfügung stehen. Wir leben diese Idee nicht 14 Tage, sondern das ganze Leben. Geschlagen hat uns das neue Auswahlverfahren. Daß die Prozedur dreimal verändert wurde, war zu unserem Schaden."
  • Ernest Petric (Slowenischer Staatssekretär): "Wir wollen es noch einmal versuchen. Aber es darf nicht noch einmal passieren, daß ein Land (Anm.: Italien) zwei Kandidaten hat. Das muß besser abgestimmt werden."
  • Giampaolo Macoratti (Präsident des Fremdenverkehrsamtes Tarvis): "Bis vor der Entscheidung habe ich geglaubt, daß sich auch im Sport was geändert hat. Ich habe geglaubt, Sport ist nicht so wie Politik. Unsere Freundschaft geht weiter. Olympia ist aus, aber unser Programm ist jetzt weltbekannt. Wir sind stärker, wenn wir zusammenarbeiten, es ist eine gute Idee, den Tourismus zusammen zu machen. Senza confini ist Teil meines Lebens."

  • Juan Antonio Samaranch (IOC-Präsident): "Es war keine leichte Entscheidung. Alle Kandidaten haben eine ausgezeichnete Bewerbung gemacht. Die weltbesten olympischen Athleten werden sehr zufrieden sein mit der Wahl von Turin. Die Hauptstadt des Piemont wird ein wundervoller Austragungsort für die Winterspiele sein und ich freue mich für sie."
  • Leo Wallner (ÖOC-Präsident/IOC-Mitglied): "Klagenfurt 2006 war eine unheimlich gute Präsentation, ist bei meinen Kollegen in aller Munde. Der Auswahlmodus hat Klagenfurt aber sicher nicht begünstigt und es war der große Nachteil, daß die Abstimmungsberechtigten nicht eingeladen werden konnten. Die Bewerbung ist wesentlich besser angekommen als wir ursprünglich gedacht haben. Klagenfurt hat gezeigt, das es was kann: Von der Organisation, von der Darbietung, von der Fühlungnahme zu den Nachbarn. Alle haben nach der Präsentation gesagt: Ihr seid die besten gewesen. Für Österreich ist es ein ganz großer Vorteil, wenn wir uns oft bewerben. Das ist gut für's Image als Sportland und gut für den Tourismus. Das hohe Stimmenverhältnis für Turin ist auch ein Ausgleich dafür, daß Rom die Sommerspiele nicht bekommen hat."
  • Marc Hodler (Schweizer IOC-Mitglied): "Ich bin maßlos enttäuscht. Ich hatte mir gewünscht, noch einmal Olympische Winterspiele in der Schweiz mitzuerleben." Der 80jährige Schweizer hält weitere Folgen für das IOC für möglich. "Ich befürchte, daß wegen des Ärgers in der Schweiz nach diesem Wahlergebnis sogar das IOC aus Lausanne vertrieben wird."
  • Primo Nebiolo (italienisches IOC-Mitglied): "Olympische Winterspiele in meiner Heimatstadt, ein Traum ist für mich in Erfüllung gegangen. Wir haben an diesem Erfolg lange gearbeitet."

  • Adolf Ogi (Präsident der Sion-Kandidatur): "Der Wert der Kandidatur hat nicht gezählt, anders ist die Wahl nicht zu erklären. Die seit 1983 geleistete Arbeit wurde nicht honoriert. Das tut weh. Es gibt viele Fragen, die man nun dem IOC stellen muß. Eine Vision verschwindet. Wir haben an die Gerechtigkeit geglaubt, doch diese Entscheidung ist schwer zu verdauen."
  • Francois Mudry (Bürgermeister Sion): "Der Weltsport hat sich mit dieser Entscheidung ein Eigentor geschossen."
  • Raymond Loretan (Mitglied des Sion-Bewerbungskomitees): "Ich glaube, der Hodler-Faktor hat eine große Rolle gespielt. Die Delegierten konnten nicht differenzieren zwischen unserer Kandidatur und dem, was im IOC geschehen ist. Sie wollten die Schweiz bestrafen und haben es getan."
  • Denis Oswald (Schweizer IOC-Mitglied): "Das IOC hat mit dieser Wahl noch mehr an Glaubwürdigkeit verloren. Seine Evaluierungskommission hat Sion am besten bewertet, doch gewählt wurde eine andere Stadt."

  • Valentino Castallani (Turins Bürgermeister): "Es hat einen Mix von Gründen für unseren Sieg gegeben. Als Außenstehender möchte ich sagen, daß das IOC durch die Wahl an Glaubwürdigkeit gewonnen hat."
  • Marcosan Pietro (Bewerbungskomitee-Mitglied von Turin): "Sions Konzept war sehr traditionell. Es war eine altmodische Bewerbung. Unsere Kandidatur war in das 21. Jahrhundert gerichtet."
  • Alberto Tomba (zurückgetretener italienischer Ski-Olympiasieger): "Entschuldigung, daß wir gewonnen haben, sage ich der Schweiz."
(APA/SIZ/dpa) Offizielle Site Torino 2006