Wien - Königinnen kramt man nicht aus der bürgerlichen Schlafwohnstube hervor: Sie sitzen mindestens in Turmgemächern. In einem solchen, glaubt man, murmeln sie unaufhörlich, auf ihrem Plüschpfauenthron. Dort oben kramen sie von Zeit zu Zeit in den mit scharlachroter Seide ausgeschlagenen Erinnerungsnischen nach den Emailschildern ihrer kostbaren Lieben: Gründgens! "Ach ja", seufzt die große Königin Marianne Hoppe, "wir hatten einen Grad der Vertrautheit miteinander . . ." Da ist ihre Erinnerung schon wieder verzogen, nach unbekannt, oder zurück in die Nische, droben in ihrem Turm, wo mindestens die Träume und Schrecken des vergangenen Jahrhunderts hausen. Frau Hoppe ist soeben ganz leicht und schwindelfrei durch Wien gelaufen, als Königin inkognito. Der Opernmanierist Werner Schroeter hat einen Film über sie gedreht, der im Viennale-Programm unter unglaublicher Anteilnahme auch notorischer Theaterschmalkostverächter gelaufen ist. Die Hoppe! Wie war das, als sie mit der Müthel die Jungfrau von Orleans gab? (Königinnen "spielen" nicht, sie "geben" etwas: ihr Kostbarstes!) In Schroeters heilig welkem Film Die Königin schlägt sie, vor bunten Theaterdekorationen pfauenthronend, die Hände zusammen: "Ich war nicht gut. Ich mochte das nicht", sagt sie dann, anteilnehmend an irgendeiner Inszenierung aus dem Jahre Schnee. Dass der Schnee damals braun und blutrot gefärbt war, deutet Schroeter nur an. Aber so erzählen veilchenfarbene Königinnen-Mütter über eine lang zurückliegende Saison in Ascott: gefasst, wie sich der Lieblingswallach einen Lauf unglücklich verstaucht hat und man ihn einschläfern musste. Verluste dieser Art übersteigen jedes materielle Maß. Königinnen zucken da mit keiner Wimper. "Die Hoppe", 1911 geboren, hat sich in einem Alter, in dem andere Königinnen auf ihrem Lorbeer schlummernd ausruhen, den Zumutungen des "modernen" Theaterbetriebs blindlings gestellt. Nie ist Schroeters Film, mit seinen Schlingpflanzen des Bösen über den Trümmern ihres märkischen Vaterhauses, komischer, als wenn die jungen Gewaltherrscher "die Hoppe" Mores lehren wollen. Mit dem Zyklopen Einar Schleef, der stampfende Thüringer Zyklop, liest mit ihr Goethes Römische Elegien. Er glaubt, ihr jede einzelne Betonung vorsagen zu müssen; sie fragt unwirsch, "warum wir das überhaupt lesen", und fegt den Zyklop damit aus dem Bild. Königinnen sitzen immer in der Bildmitte. Im Interview nennt sie die Erfahrungen mit Bob Wilson, mit Heiner Müller, mit Schleef, mit Martin Wuttke pauschal "interessant": "Man lernt immer etwas", fügt sie hinzu. Sie gönnt allen etwas. "Der Müller", sie spielte in seinem Rokoko-Liebeszweikampf Quartett die Merteuil als unnahbare, turmfrisierte preußische Höllenmacht im Berliner Ensemble, "hat nie viel gesprochen. Wir verstanden einander einfach gut!" Königinnen müssen nicht schwallen, nie schwätzen. Sie sind, was sie sind. Somit darf der Interviewer sein Mikrofon leise einpacken ("Haben Sie genug Material?" - Königinnen denken sehr wohl liebend an ihre Untertanen.). Die Frage, wie sie die deutsche Wiedervereinigung erlebt habe, quittiert sie mit: "Glücklich!" Sie hätte ihr Geburtshaus in Rostock kaufen mögen. "Hängen doch so viele Erinnerungen daran." Die gehören ihr. Die gibt sie nicht preis. Königinnen haben keinen Preis, unter keinen Umständen. Man hätte sie noch fragen wollen, wie das damals war, als sie 1990 in Frankfurt den König Lear spielte, in einem von Robert Wilsons starren, geometrischen Heimatabenden. Man hätte genauso gut fragen können, wie der Yen steht, ob der DAX fällt oder der Erdölpreis steigt. Königinnen steigen immerzu höher. Nur die da unten, die können sie nicht sehen. Lauter letzte Fragen: Die nach ihrer legendären Freundschaft mit Thomas Bernhard entlockt ihr ein irdisches Lächeln: "Ich da in meinem Haus in Oberbayern, er in Oberösterreich." Sie hält verzückt inne. "Wir haben Räder getauscht!" Und das will sie jetzt unter keinen Umständen interpretieren. (Ronald Pohl - DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.10. 2000)