Die Vereinbarungen von Oslo seien permanent einseitig gebrochen worden, die Gewalt könne nur gestoppt werden, wenn Israel die "Fesseln der Palästinenser" löst, meint Stefan A. Lütgenau: Ein politischer Befund nach einer Reise durch die besetzten Gebiete. Angesichts der ausufernden Gewalt in Israel und den Gebieten der palästinensischen Autonomiebehörde in der West Bank und im Gaza Streifen, diskutiert die westliche Welt, wie der Friedensprozess von Oslo noch zu retten sei. Angesichts der Tatsachen, die seit Jahren aus der Krisenregion des Nahen Ostens nach Europa gemeldet werden, erscheint diese Diskussion mehr als verwunderlich. Erinnern wir uns, das Oslo Abkommen fußte auf einer Zwei-Schritt-Lösung: bis Mai 1999 Aufbau von vertrauensbildenden Maßnahmen, danach Ausverhandlung und gemeinsame Festlegung einer Friedenslösung. Weder das eine noch das andere hat je stattgefunden. Im Gegenteil: Israel hat nach Oslo mehr Militärposten in den Palästinensergebieten errichtet als vor Oslo. Der aggressive Bau von Siedlungen, zumeist auf konfisziertem Land palästinensischer Bauern und immer in bester strategischer Lage geht ungebrochen weiter; die palästinensischen Gebiete sind heute ein Torso aus unzusammenhängenden Flecken ("Tigerfell-Karte"), deren Lebensnerv von den Israelis jederzeit gekappt werden kann. Das offiziell vollständig unter palästinensischer Hoheit stehende Gaza ist dafür das beste Beispiel: Die Palästinenser kontrollieren hier bei einem Bevölkerungsverhältnis von 1,6 Millionen Palästinensern zu 6000 israelischen Siedlern nur ca. 56 Prozent des Gebietes, 44 % sind immer noch unter Kontrolle der Israelis oder als Siedlungen gar exterritoriale Enklaven mit ebenfalls exterritorialen Zufahrtsstraßen. Die so genannte Siedlung von Netzarim im Gaza, eine festungsartige Herberge für wenige Hundert Israelis, hat keinen anderen Zweck als das dort lagernde wertvolle Grundwasser aus dem Gaza abzupumpen und auf die Felder im südlichen Israel zu leiten - wobei selbstverständlich ebenso wenig Entschädigung gezahlt wurde wie bei der Enteignung des Landes, auf dem Netzarim errichtet wurde. Die Folgen sind nicht nur ein langsames Eindringen von Salzwasser in die unterirdischen Süßwasserreservoirs, sondern auch eine stete Provokation der umliegend wohnenden Palästinenser. Die direkt an der Siedlung vorbeiführende asphaltierte Straße ist für sie gesperrt, um Netzarim zu umfahren, müssen sie einen langen Umweg in Kauf nehmen. An der berüchtigten Kreuzung von Netzarim, an der vor laufender Kamera ein zwölfjähriger Junge im Feuer israelischer Soldaten starb, hat das Militär entgegen den Vereinbarungen von Oslo einen stark befestigten Stützpunkt errichtet. Jederzeit ist es so den Israelis möglich, die Verbindungsstraßen im Gaza zu blockieren und Gaza in drei Teile zu zerschneiden, die untereinander keine Verbindung mehr haben. In den Autonomiegebieten haben die Israelis nach Oslo ein Apartheidssystem etabliert, das die Palästinenser systematisch wirtschaftlich und politisch entrechtet. Verbotszonen, Landraub und Sonderrechte für jüdische Siedler in den palästinensischen Gebieten sind der Alltag. Das kann keine Basis für einen Frieden sein. Die Vorgehensweise der israelischen Sicherheitskräfte gegen teilweise gewalttätige Demonstranten war von Beginn an unverhältnismäßig: Gummimantelgeschoße, scharfe Munition und auch Spezialwaffen wie Hochgeschwindigkeitsprojektile, großkalibrige Maschinengewehre und sogar Kampfhubschrauber wurden und werden gegen Steine werfende Jugendliche und Kinder eingesetzt. Jeden Abend können wir in Fernsehen verfolgen, wie gut gesicherte israelische Soldaten in aller Ruhe gezielte Schüsse auf Demonstranten abgeben (ich selbst war Zeuge, wie sogar Ambulanzfahrzeuge und offizielles Hilfspersonal unter Feuer genommen wurden). Dazu hören wir fast täglich Meldungen über den steigenden Blutzoll unter den Palästinensern. Wo sonst in der Welt setzt ein Rechtsstaat Kriegswaffen gegen Demonstranten ein? Warum genügen nicht Wasserwerfer und Tränengas, das in den seltenen Fällen, wo es doch zur Anwendung kam, die Menge schnell auflöste? Premier Barak lobte unterdessen die Sicherheitskräfte in den israelischen Medien für ihre "wunderbare Arbeit", da waren bereits 60 Tote unter den Palästinensern zu beklagen, und am selben Abend schnellte die Zahl der Opfer von gezielten Schüssen nochmals in die Höhe. Hatte die Polizei die Äußerung Baraks als Freibrief verstanden? Die israelische Öffentlichkeit ist auch angesichts von mittlerweile über hundert Toten der Meinung, die israelischen Sicherheitskräfte gingen angemessen vor, eine Vielzahl verlangt allerdings schärfere Maßnahmen. Einer Gesellschaft aber, die mit Kriegswaffen gegen Kinder vorgeht, die Eigentum systematisch raubt, sind die Maßstäbe abhanden gekommen. Der massive Einsatz der Luftwaffe nach dem brutalen Mord an zwei gefangenen israelischen Soldaten in Ramallah passt ins Bild: Die vierte Genfer Konvention zum Schutze der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten verbietet solche "Strafaktionen", Israel hat diese Konvention aber erst gar nicht ratifiziert . . . - Stationen eines "Friedensprozesses", der für die Palästinenser ein einziger Leidensprozess war, weil ihre Hoffnungen systematisch enttäuscht wurden. Welche Optionen zur Bewältigung der Krise bleiben? Zum ersten, und jeder neue Gewaltausbruch macht das deutlicher: Verhandlungen sind unverzichtbar, kriegerisch ist das Problem nicht zu lösen. Zweitens haben sechs Jahre Verhandlungen den zentralen Nerv des Nahostproblems freigelegt: die Jerusalem-Frage und die Souveränität der Palästinenser. Übereinstimmend in allen politischen Lagern der Palästinenser sind diese Forderungen zu hören: ein souveräner palästinensischer Staat mit der Hauptstadt Jerusalem, vollständiger Rückzug der israelischen Armee aus den besetzten Gebieten, Aufgabe der Siedlungspolitik und Entschädigung für das geraubte Land. Zum status quo ante führt jedenfalls kein Weg mehr zurück. Je eher Israel erkennt, dass mit dem Frieden das Recht unteilbar verbunden ist, solange Israel nicht die Fesseln der Palästinenser löst, solange wird Gewalt im Nahen Osten regieren. Stefan August Lütgenau, Politologe und Mitarbeiter der Bruno-Kreisky-Stiftung, ist soeben von einer Fact-Finding-Mission aus Israel, dem Gaza und der West Bank im Auftrag des Euro-Mediterranean Human Rights Network, Kopenhagen, zurückgekehrt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. 10. 2000)