Wie sagt man: Zuerst die gute Nachricht? Oder doch viel lieber zuerst die schlechte? Mein Bild von Deutschland war lang, ehe ich es kannte, die gute Nachricht. Die nördlichen Gegenden ermutigten mich auf der Landkarte. Vor allem war ich auf dieser Kinderlandkarte Ostpreußen verfallen, "Namen, die keiner mehr kennt". Eben deshalb. Es kam mir vor, als wäre dort selbst das Wetter ehrlicher und keinesfalls tückisch. Ich hätte mir dieses Deutschlandbild so wenig nehmen lassen wie die Freude auf den Ferienbeginn und während der Ferien die Freude auf den Schulbeginn. Dass zu Deutschland auch Castorp-Rauxel und Wuppertal-Elberfeld gehörten, strich ich schon, ehe ich davon wusste. Es war anders als Österreich, offener. Ich sah den Heldenplatz in der Realität, und den im Burgtheater. Die Realität war um einiges schlimmer. Und ich konnte mir einen solchen Heldenplatz in Berlin, Hamburg oder Köln nicht vorstellen. Filmtitel sind Vorfreuden. Hartmut Bitomskys Titel Deutschlandbilder gab nicht nur her, was er versprach: Aus jeder Szene wurde ein geheimer Code. Beispiel: Zum Titel "Gemeinschaft" eine Kaffeetasse nach der anderen, aufgereiht in Reihe und Glied. Kaffee wird eingegossen, Zucker hineingeworfen, alles bleibt unberührt. Vom Jahr 1933 an wurde jedes Jahr von Bitomsky in einer knappen Bildbemerkung charakterisiert. Die Jahre waren dabei extrem gegenbesetzt. Man konnte zum Jahr 1944 nicht Stauffenberg und die Bendlerstraße sehen, sondern kleine Kinder, vorwiegend Mädchen, die Kreisspiele spielten und herumhüpften, von einer Erzieherin beobachtet und gegängelt. Nach Kriegsende erwachten besonders im trostlosen Österreich die alten Wünsche nach anderer Gemeinsamkeit. So sah ich 1951 die Gruppe 47: ein Zeltlager, Pfadfinder. Und dazu auch noch die Ostsee. Damals sagte ich zu einem der mir fremden Teilnehmer: "Hier ist es schön." Wir standen am Strand und sahen auf die blaue Ostsee. Und er sagte ziemlich grob: "Was ist schön?" Er hatte recht: Schön war für mich das East End in London und ein Blick auf die Straßen des dritten Wiener Bezirks. Hieß "schön" doch: etwas wieder zu erkennen. Ich wollte das Wort lieber streichen, es war pauschal. Die Reichsautobahn aber, in einem weiteren Film von Bitomsky, sollte schön sein. Sie war nicht, wie vermutet, für Waffen- und Truppentransporte gedacht, dem hätte sie nicht standgehalten. Sie war das Glamour-Girl der Nazis, die Marlene Dietrich, die sie nicht hatten. Es ging um Brot und Spiele. Die Spiele waren das Wichtigere. Die Arbeiter, die man im Film sah, schienen stolz. Sie arbeiteten gemeinsam an einer Sache, die einmalig sein sollte: Musiker und Makler und Epiker ohne Aufträge, nicht ernst genommene Künstler - wie Hitler, der an der Kunstakademie in Wien abgelehnt wurde. Eine ganz gute, fast zarte Zeichnung der Karlskirche habe ich gesehen. Man hätte ihn aufnehmen sollen. Aber ihm hätte nichts genügt. Als den größten Feldherrn aller Zeiten empfand nicht nur er selbst sich. Tiefer und ebenso unheilbar waren seine Wahnvorstellungen von Architektur, von der Schönheit des Straßenbaus, den Wegen durch Deutschland, dem Blick darauf. Alte Propagandafilme in Reichsautobahn verkünden nicht zu lange Geraden, lange Kurven, einladende Rastplätze. Die eingeblendeten Spielfilme mit hübschen Blondinen und Herrenreitern endeten glücklich und meistens im Gebirge, dem erklärten Lieblingsziel der Flachlandbewohner. Und man war alles gemeinsam: aus der Ebene, aus dem Gebirge, zu Lande und zu Wasser. Die Gemeinsamkeit durfte aber nie privat werden. "Für immer geschieden", nannte es eine witzige Bemerkung: Wer oben fuhr, konnte nicht hinunter, wer rechts fuhr, nicht nach links. So blieb man gemütlich beisammen, die deutsche Landschaft gab gemütliche Ziele vor, erreichbar, aber nicht wirklich angestrebt. Nur eins musste unverlierbar sein: die Gemeinsamkeit, das ferne Ziel. Infanteristen, Kanoniere oder Matrosenfrauen daheim, wo einem das Dach auf den Kopf fiel, bevor es die Bomben daran hinderten. Und die Infanteristen, Kanoniere und Matrosen, in gerahmten Fotos an den Stubenwänden: uniformiert, dekoriert und glücklich, endlich weg zu sein. Krieg. Die Meeresstraßen, die Luftwege, die Autobahnen: alle, die nahe Ziele fern hielten. Die Heimat, die nicht nur damals zum Moloch wurde. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Beilage 19. 10. 2000)