Japan präsentiert sich dieses Jahr auf der Viennale als das Land der Längen-Schwergewichte: Mit den drei herausragenden aktuellen Produktionen dieser wohl faszinierendsten kontemporären Kinemathographie ist man satte neun Stunden beschäftigt. Die kürzeste Arbeit davon dauert 2 Stunden 28 Minuten, heißt Ao no to / The Blue Tower , und ist das Spielfilmdebut des renommierten TV-Dokumentaristen Katsumi Sakaguchi. Seit vor einigen Jahren seine kleine Schwester Sayoko bei einem Unfall vor seinen Augen gestorben ist, hat sich Toru, nun 19, völlig von der Außenwelt abgekapselt: Tagsüber schläft er, nachts kümmert er sich um seine Wasserflöhe, strolcht an den Klärkanälen entlang und philosophiert in sein Tagebuch. Eines Nachts findet Toru am Kanal ein missbrauchtes Schulmädchen namens Midori, die er für die wieder geborene Sayoko hält. Er nimmt sie mit nach Hause . . . Sakaguchi hat für sein Debüt zu einer Methode gegriffen, die sich unmittelbar aus seinem Schaffen als Dokumentarist herausentwickelt hat. Ao no to wurde ausschließlich mit Laien besetzt, zudem Leuten, die selbst die gleichen Probleme haben wie ihre Charaktere. Im Prinzip muss/soll/darf niemand spielen: Alle sollen Dinge tun, die sie kennen und können. Vor dem Hintergrund des japanischen Kinos wirkt diese Methode weniger ungewöhnlich, als sie hier im Westen wäre. Das japanische Kino glaubt nicht an die Wahrheit des Bildes - das immer fabriziert ist -, sondern an die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit seiner Macher. Ao no to ist ein Skelett von einem Film. Man darf sich am Anfang nicht von der TV-matten Flauheit der Bilder und der etwas dräuselnden Musik erschrecken lassen. Die Stumpfheit der Farben und das immer etwas zu unkontrolliert-grell wirkende Licht entwickeln sich zu einer der Stärken des Films, die Musik verdichtet sich in ihrer um sich selbst kreisenden Weise zu einem seiner wesentlichen Rhythmus-Elemente. Jedes Bild, jeder Klang hat in Sakaguchis insistierendem Gestus etwas extrem Intensives: ein Kino des Wesentlichen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Beilage 19. 10. 2000)