Wien - Die molekulare Medizin revolutioniert die Heilkunde: Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms bietet sich für die Menschheit die Möglichkeit, das Leben und die Evolution umfassend zu verstehen. Doch trotz aller Erfolge der vergangenen Jahre steht die Forschung noch immer erst am Beginn. Das erklärten Samstag Vormittag internationale Experten bei einem Symposium von ORF Radio Österreich 1 zum Thema "Die molekulare Medizin und ihr neuer Mensch" an der Universität Wien. "Ich bin überzeugt, dass wir wirklich in einer Revolution unseres Verständnisses vom Lebens stehen. Das Leben ist die Umsetzung der Information im Genom in den Organismus. Der Organismus berechnet wie ein Computer aus den Informationen den Typ des Organismus", erklärte Univ.-Prof. Dr. Hans Lehrach, Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Das Leben aller Organismen auf der Erde funktioniert allein auf der Basis der Erbsubstanz. Lehrach: "Das ist wie bei einem Computer. Die Information im Genom wird ausgelesen. Aus den Ausleseprodukten werden übersetzte Proteine. Wir haben ein extrem komplexes Netzwerk. Bisher sind wir an das Verständnis dieser Mechanismen sehr punktuell herangegangen. Wir haben versucht, isolierte Gene zu verstehen." Lost in a sea of information Doch dieser Ansatz bereitet Probleme. Weil das Gen-System so komplex ist, geht man in diesem Meer an Informationen leicht verloren. Zweitens geht noch immer viel Zeit für unnötigerweise mehrfach gemachte Untersuchungen zum selben Thema verloren. Und drittens gibt es ein philosophisches Problem: Man kommt nicht besonders weit, wenn man so komplexe Systeme wie das Genom untersucht, indem man sich von einem solchen "neuronalen Netz" nur einen einzigen "Transistor" anschaut. Die Zukunft laut dem Wissenschafter: "Vom Einzeltransistor zum Genchip. Vom mittelalterlichen Schuster zur Schuhindustrie. Wir haben ungefähr drei Milliarden Bausteine (Basen) in unserer Erbsubstanz. Wir haben wahrscheinlich ca. 40.000 Gene. Wir kennen rund 7.000 genetisch bedingte Krankheiten. Wir müssen aber das ganze Netzwerk verstehen, um die Krankheiten erklären zu können. Wir haben daher sehr früh begonnen, Roboter zu entwickeln, um die manuelle Arbeit zu ersetzen. Die Biologie des industriellen Zeitalters muss so funktionieren wie die übrigen industriellen Prozesse." Lehrach und seine Kollegen waren beispielsweise wesentlich an der Sequenzierung des menschlichen Chromosom 21 beteiligt. Daraus wurde ein "Katalog": Er besteht aus 225 Genen, 127 bekannten und 17 "Krankheitsgenen". Zum Beispiel sind Veränderungen auf dem Chromosom 21 wichtig, weil sich dort auch die Veranlagung für den Mongolismus befindet. Umbruchphase in Medizin und Biologie Doch noch immer steht die Wissenschaft erst am Beginn. Der Molekulargenetiker Univ.-Prof. Hans Lehrach: "Das Genom ist für uns lesbar, aber wir können es noch nicht verstehen. Das ist ähnlich, wie wenn wir eine italienische Zeitung mit unseren Latein-Sprachkenntnissen lesen. Wir erkennen ein paar Worte, wir verstehen nur kleine Teile. Aber wir werden das alles verstehen müssen. Erst in dem Moment, in dem wir mit einem Computermodell Voraussagen über biologische Prozesse machen können, werden wir sagen können, dass wir das Prinzip dieser Prozesse kennen. Aber wir sind davon noch weit entfernt." Ohne Zweifel aber ist die Wissenschaft an einem kritischen Punkt des Verständnisses vom Leben auf der Erde angelangt. Der Forscher: "Wir sind einer Umbruchphase der Medizin und der Biologie. Wir sind dabei, von einer punktförmigen Biologie zu einer systematischen Biologie zu kommen. Medizinische Behandlung muss immer mehr auf dem Verständnis des gesamten biologischen Netzwerkes einer Krankheit bestehen. Wir wollen durch diagnostische Methoden dem Patienten die Möglichkeit geben, sein Leben besser zu planen." Chorea Huntington ... Ein Beispiel dafür ist der Veitstanz (Chorea Huntington). Das für die Entstehung der vererbbaren Erkrankung beim Menschen verantwortliche Gen wurde vor Jahren von einem Team unter Lehrach entdeckt. Das eröffnete zunächst Möglichkeiten zur Gendiagnose. Doch die Forscher sind schon weiter. Der Wissenschafter: "Wir haben jetzt zum Beispiel bei der Chorea Huntington schon ein perfektes Mausmodell. Und wir haben beispielsweise 180.000 Substanzen getestet, um die Chorea Huntington-Ablagerungen, die im Laufe der Krankheit im Gehirn auftreten, wieder zu entfernen." ... oder Krebs Ein anderes Beispiel von Lehrach: "Ein Drittel der Menschen stirbt an Krebs. Wir haben gute Chancen, diese Krankheiten zu verstehen. Das wird auch enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft haben. Wir können mit unseren Lohnkosten nicht mit den Philippinen konkurrieren. Wir müssen die Hochtechnologie weiter entwickeln. Grundlagenrevolutionen bringen Revolutionen in der Wirtschaft hervor." Fazit: Länder wie Deutschland und Österreich haben laut Lehrach nur dann die Möglichkeit, in der zukünftigen Wirtschaftswelt eine federführende Rolle zu spielen, wenn sie die moderne Genomforschung unterstützen. Der Forscher: "Wenn wir krank sind - und wir werden alle einmal krank -, werden wir uns mehr um die Gesundheit kümmern als um Handys. Wenn wir tot sind, werden wir keine Computer kaufen können." (APA)