In Zeiten wie diesen häuft sich im Journalismus das, was man hier am wenigsten erwarten würde: die Wiederholung. Dieselben Themen tauchen immer wieder auf, dieselben Debatten werden immer wieder geführt. Langeweile? Oder bleiben die Fragen brennend - etwa die Frage nach der Demokratie? Peter Warta hat kürzlich (STANDARD, 13. Oktober) solch eine alte Frontlinie neu gezogen, und die formale Demokratie in Stellung gebracht gegen eine "inhaltliche", die Neutralität des demokratischen Verfahrens hochgehalten gegen die Herrschaft der Werte. Kurz, er hat das Thema Rationalität gegen Ethik aufgegriffen - ein Thema, das in seiner griffigeren Variante als "Coolness gegen Gutmenschentum" allseits beliebt ist.

Paradebeispiel

Der konkrete Anlass für Wartas Wortmeldung war ein Kommentar im Falter zum Umgang der Regierung mit sozial Getroffenen, namentlich mit den Gewerkschaften. Hier würde behauptet, so Warta, dass das Mandat einer formal korrekten, legalen Regierung an legitimen sozialen Ansprüchen seine Grenze finde. Dies ist für ihn das Paradebeispiel eines inhaltlichen Demokratiebegriffs: Hier würde der Rechtsstaat durch den Wert "soziale Gerechtigkeit" in die Schranken gewiesen werden. Solches aber würde das einzig demokratische, das formelle Demokratiekonzept verletzen.

Als Autorin möchte ich an dieser Stelle einen grundsätzlichen Einwand machen: Ich halte diese Gegenüberstellung für irreführend. Denn sie verzerrt beide Elemente, sowohl die Form als auch den Inhalt der Demokratie. Zum einen ist diese Form nicht neutral. Denn jedes Verfahren transportiert einen Inhalt. Jede demokratische Reglementierung objektiviert durchaus Qualitatives, nämlich Werte wie Machtteilung, Minderheitenschutz, Gleichheit u. ä. Die Form übersetzt diese Inhalte ins Prozedurale.

Keine Werte

Zum anderen aber sind die viel zitierten und viel gescholtenen Werte nicht abstrakt. Man könnte auch sagen, es sind keine Werte. Der "Formalist" sieht den Wert als eine Kategorie, mit dem Anspruch, kraft eigener Geltung über dem Verfahren zu stehen.

Diesen Anspruch weist er vehement zurück. Ich auch. Aber aus anderen Gründen. Denn die Werte, die in der Demokratie zum Tragen kommen, sind politische "Werte". Sie schweben nicht in einem moralischen Jenseits. Sie haben vielmehr einen realen Ort in der Gesellschaft: Sie hängen an Akteuren und damit an konkreten und rivalisierenden Positionen. In einer Demokratie gibt es keinen absoluten Standpunkt.

In diesem Sinne war die Stoßrichtung des Falter-Kommentars auch nicht eine Klage über die Verletzung der "sozialen Gerechtigkeit" durch die Regierung, sondern ein Hinweis, dass die Art, wie derzeit Forderungen zurückgewiesen und Gewerkschaften brüskiert werden, darauf hinausläuft, dieVerhandlungspartner zu desavouieren.

Akteure als Untertanen

Hier werden politische Akteure wie Untertanen behandelt - mit weitreichenden Folgen. Denn die Position eines politischen Akteurs ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sie muss vielmehr erst erkämpft werden. Gelingt dies, und eine Gruppierung wird als politisches Subjekt anerkannt, dann bedeutet das auch die Integration ihrer Ansprüche. Erst solch eine Position macht Forderungen zu legitimen Forderungen, das heißt zu Rechten, auf die man sich berufen kann. Ein Prozess, den die Geschichte der Arbeiter-oder der Frauenbewegung bestens illustriert. Und ein Prozess, der das Konzept der Demokratie, der ihre Form jeweils verändert hat und weiterhin verändert. Mehrheitsentscheidungen werden von den miteinander kämpfenden politischen Kräften eingeschränkt, die dabei ihren jeweiligen "Wert" durchsetzen - und nicht durch die Berufung auf ein "Wesen" der Demokratie, wie Warta unterstellt. Durch solche Anerkennungskämpfe hat der rein formale Demokratiebegriff Veränderungen erfahren, die dieses Konzept heute als Abstraktum erscheinen lassen. Demokratie ist ein offener Begriff, das heißt, er hat keine fixe und abgeschlossene Bedeutung.

Wechselnde Formen

Insofern hat Demokratie eine Geschichte, wechselnde konkrete Formen, die der abstrakte Gegensatz "Form oder Werte" verfehlt. So kann etwa die historische Gestalt der Nachkriegsdemokratien nicht von ihrer antifaschistischen Herkunft abstrahiert werden - eine Tatsache, der die FPÖ insofern Rechnung trägt, als sie deren historische Gewordenheit negativ als Fremdbestimmung thematisiert.

Wenn Peter Warta schreibt, Demokratie bedeute, Werte "in oder außer Kraft" zu setzen, ihnen "in einer Gesellschaft Geltung zu verschaffen oder zu entziehen", so ist dem nur zuzustimmen. Aber genau aus solch unterschiedlichen Vorherrschaften, aus der Relativität der Werte bestimmt sich auch die Veränderbarkeit der Legitimität, die wechselnden Gründe für die Akzeptanz einer politischen Ordnung.

Und genau an diesem Punkt setzte und setzt die Kritik der Regierungsgegner ein: Was wir derzeit erleben ist der Versuch, eine neue Legitimität herzustellen. Deshalb werden sachliche Auseinandersetzungen - wie etwa Lohnverhandlungen - stets von einem grundlegenderen Dissens überlagert. Dessen Ziel sind die Auflösung der alten und die Integration in neue Formen der Legitimität, und genau darin besteht das so genannte "populistische Moment" der derzeitigen Regierung.

Isolde Charim ist Philosophin in Wien.