Am 20. 10. 2000: Die Ufa , ein Film von Hartmut Bitomsky. Ein Heyne-Buch, Die Stars der Ufa , trug ich lange mit mir, leider in Verlust geraten. Das Verlangen nach diesen schlechteren, aber viel deutlicheren Zeiten wächst, zugleich und fast identisch damit dasjenige nach dem Kino dieser Zeit und seinen Chiffren. Es hätte für mich nicht des Schildes "Judenverbot" bedurft, um die Kinosucht, selbst die nach Nazifilmen, extrem zu steigern. Außerdem durfte ich Kinos noch betreten, da ich nur halbjüdisch war. Ich identifizierte mich auch weder mit dem Judentum noch mit dem Christentum, beide erschienen mir gleich fremd, von Angst geprägt und Angst auslösend. Die Erlösung war das Kino. Dieser Kino-Code verschwand zuletzt, kurz vor den schweren Stromausfällen, weil Goebbels es mit gewissem Recht für unverzichtbar hielt. So weit war ich mit ihm einig. Ich weiß nicht, wie weit seine Kinoleidenschaft reichte, aber vermutlich hielten wir gewisse Chiffren für gleich wichtig. Eine war die Ufa, der "riesige Bastelladen", so der Viennale-Katalog. Dass der Krieg die Ufa subventioniert hat, leuchtet ein: der Tod den Bastelladen. Sie wurde am 18. De- zember 1917 gegründet, entsprach also einem ziemlich verspäteten Weihnachtseinkauf, einer Schnitzler-Szene. Auch für diejenigen, die damals noch nicht geboren waren, sollte dieser Tag viel mehr entscheiden als viele andere Tage: eine Art Straßenkreuzung, die das Schicksal bestimmt. Die Kinosammlerin Ich erinnere mich an die ersten Kinos: Das Fasankino schräg gegenüber einem unserer ersten Wohnorte, vielleicht dem glücklichsten, in der Hohlweggasse, die es noch immer gibt, Hohlweggasse 1. Ab 1938 wohnten nur noch Parteimitglieder dort. Etwas mehr in Richtung Stadt entstand später der Sascha-Palast aus einer ehemaligen k. k. Reitschule. Reiten hätte damals auch eine Leidenschaft werden können, aber eine zu teure: Das Hippodrom im Prater musste genügen. Kinos waren billig. Das Stadtkino (damals das Schwarzenbergkino) entstand erst später. Aber diese Gegend war mir, was für Thomas Bernhard die Gegend um Ohlsdorf war. Er hatte Grundstücke gesammelt, ich sammelte - entsprechend dem frühen Wunsch zu verschwinden - Kinos, zugleich flüchtigere und bleibendere Besitztümer. Und die wurden zum Glück immer mehr. Flächen, Kino, Bunker heißt ein anderer Film von Bitomsky. und einer Das Kino und der Wind und die Photographie , ein Film über Filme, und alle haben sie zu tun mit: Das Kino und der Tod. Der Film beschäftigt sich ohne Unterlass mit dem Tod, der Tod ist ein Axiom des Kinos. Die Schauspieler aber betonen ihre Kunst des Schauspiels und nicht die des Sterbens. Das Sterben hat andere Dimensionen. Nicht die der Zugehörigkeit, sondern die der Einsamkeit. Im Kino wird das Verschwinden geübt. Die Filmlandschaft ist zugleich Zuflucht und Ort der Distanz zur eigenen Person, der Trennung von ihr. Imaginäre Ziele Ich erinnere mich an den Tag, an dem meine Zwillingsschwester, damals 17-jährig, 1938 für immer nach England floh, mit einem Kindertransport der Quäker. Am Abend davor, ehe sie mit ihrer Nummer 202, die auf einer Tafel mit einer dünnen Schnur über ihrem dünnen Pullover schwankte, aus dem Waggonfenster winkte, waren wir zuletzt miteinander im Kino gewesen, ich glaube, es hieß Scala, im vierten Bezirk, und hatten zum Abschied einen Film gesehen, der sicher ein Nazifilm war, vermutlich auch ein Ufa-Film: Der Gouverneur , mit Willy Birgel und Brigitte Horney. In den von Hitler geforderten deutschen Lebensraum im Osten konnte man da schon eintauchen. Zugleich aber entsprach das einem imaginären frühen Ziel aus der Hohlweggasse, dem europäischen Osten und Nordosten. Später sah ich Willy Birgel noch in Reitet für Deutschland , eindeutig ein Nazifilm und auch ein Ufa-Film. Aber Der Gouverneur war unvergesslich. Heute hat man nur noch im Bellaria-Kino die Chance, solche Filme anzusehen, von den argwöhnischen Blicken der dortigen "Queen", wie sie mir mit ihrem großen Hut erscheint, betrachtet. Und wenn ich mich danach frage, wer das größere Recht hätte, argwöhnisch zu sein, sie oder ich, dort im Foyer, wo die Bellaria-Eingeborenen spazieren, so komme ich zuletzt auf die nicht unbedingt salomonische Entscheidung: sie und ich, nur überwiegt meine Befürchtung, doch nicht dazuzu-gehören, ihre aggressive Sorge, Fremde hätten sich in den innersten Cercle der Kinowelt eingeschlichen. Noch einmal: Lebensarten, Sterbensarten, aber vor allem Kinoarten, Kinoplakate, Kinoeingänge - dorthin, wohin man immer hinwollte: ins Herz der Finsternis. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23. 10. 2000)