Film
Flucht in feindliche Geräusche
Neu im Kino: "Dancer in the Dark", ein Musical als Opfergang und als Kampf
Überwachungskameras für Traumtänzer; Hypnose für Popstars; Kindermärchen für bekennende Regie-Terroristen: Dies alles und noch viel mehr macht Lars von Triers Musical "Dancer in the Dark" zu einem der großen umstrittenen Filme dieses Jahres.
Claus Philipp rät nachdrücklich zum Kinobesuch.
Wien - "Ich habe alles gesehen", singt Björk einmal. Als erblindende Fabriksarbeiterin Selma redet sie sich ein, dass ihr Defekt auf Dauer wohl keinen Verzicht bedeute. Und sie, deren Sichtradius praktisch auf null eingeschränkt ist, wird dabei ironischerweise, doch unbarmherzig von 100 Überwachungskameras gefilmt, während knapp an ihr ein nicht enden wollender Transportzug vorbeirast.
Groß ist die Gefahr, dass sie mit dem Nichts-mehr-sehen-Müssen bzw. -Können unter die Räder gerät. Und evident ist gleichzeitig die Manipulation durch einen allgegenwärtigen Regisseur (als Big Brother), der bei seinen Videoaufzeichnungen in der Lage ist, ganzen Landschaften und deren Bewohnern, an denen der Zug vorbeifährt, seltsamste Choreographien eines (ferngesteuerten) Glücks abzuringen. Der die Farbtöne der digitalen Bildpixel hochfährt, bis sie wie ein schlechter Technicolor-Scherz anmuten. Nun ist das Musical vielleicht tatsächlich das tyrannischste unter den Kinogenres. Sein Paradox ist eine Leichtigkeit, die meist aus härtestem Drill und choreographischer Disziplin entsteht. Und es ist bezeichnend für Lars von Trier, dass er sich in sarkastischer Verneigung vor der Filmgeschichte permanent zum Oberterroristen unter den Visionären hochstilisiert.
Den Vergleich mit einem Kind, das andere mehr oder weniger zum Mitspielen zwingt, hat der dänische Regisseur wiederholt in Interviews strapaziert. Was andere schockieren mag - Überwachungstechnologie etwa -, bezeichnet er als amüsante Chance. An der Entschlossenheit, mit der er ans Ziel zu gelangen denkt, lässt er keinen Zweifel. Legende sind mittlerweile die Auseinandersetzungen zwischen ihm und Björk bei den Dreharbeiten zu
Dancer in the Dark
: Es heißt, von Trier hätte die Sängerin in ihre erste Film- und Hauptrolle sogar durch Hypnose hineinzwingen wollen.
Wahrscheinlich war seit Coppolas
One From The Heart
nicht mehr so inständig die Rede von einer derart kompromisslos beschworenen Regie-Welt als Wille und Vorstellung. Und Francis Ford Coppola ist - von Werner Herzog abgesehen - vielleicht auch der Regisseur, dem von Trier gegenwärtig am nächsten steht. Wie Coppola mit seinen
Zoetrope
-Studio-Anstrengungen bereits in den 80er-Jahren an totale kreative Kontrolle mit Videoaufzeichnungen glaubte (und damit auch permanent das eigene künstlerische Überleben riskierte), so tut es jetzt auch von Trier in den Zentropa-Filmen. Beide können herzzerreißend sentimental sein. Bei beiden grenzt dieser Wille zum Gefühl immer an Sadismus.
Vor diesem Hintergrund ist es nun erst recht interessant, wie das Gehör-Wesen Björk sich dem "Seher" von Trier doch nicht unterordnet. Wie sie in der Musik, die sie komponiert hat, gewissermaßen eine eigene Stimme, einen eigenen Standpunkt, kurz: sich selbst behaupten kann. Und es ist eine der unbestreitbaren Qualitäten von
Dancer in the Dark
, dass Trier dieser akustischen Ebene, auf der Björk - "Ich habe alles gesehen!" - gleichsam in Geräusche und Rhythmen hineinflieht, ihre eigenständige Größe lässt.
Und so ist dieser Film gewissermaßen ein dialogisches Ringen zweier gleichwertiger Gegner geworden: Hier Lars von Trier, der - wie schon in
Breaking the Waves
und
Idioterne
- gleichsam ein Kindheitsmärchen eines unschuldigen Opfergangs adaptiert. Dort Björk, die den Naivitäten des Pop längst entwachsen ist und aus kritzelnden Bleistiften, stampfenden Maschinen und bebenden Bahngleisen komplex orchestrierte "Selmasongs" entwickelt.
In Cannes wurde
Dancer in the Dark
bekanntlich mit der Goldenen Palme prämiert. In den USA, wo man sich - wie schon bei Coppola und
One From The Heart
- von Musicals anderes erwartet, wurde der Film als dilettantisch verdammt. Es ist wahrscheinlich, dass auch hierzulande Meinungen aufeinander prallen werden. Und ganz sicher kann dem Kino in diesen Tagen nichts Besseres passieren: Es gilt, Position zu beziehen.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26.10.2000)