Wien - Simon Wiesenthal war sehr gerührt, als er Dienstagabend im Großen Festsaal des Wiener Rathauses saß und die Gratulationen österreichischer und internationaler Honoratioren entgegen nahm. Am Mittwoch würde "sein" Mahnmal am Judenplatz eröffnet werden, und die Stadt hatte zu einem festlichen Empfang geladen. "Dieses Denkmal", betonte Wiesenthal, "schafft eine Verbindung über 600 Jahre Verfolgung." Schließlich hatte man ja unter dem Judenplatz, wo Rachel Whitereads Mahnmal errichtet werden sollte, die Ruinen einer Synagoge gefunden. "An diesem Platz war das erste jüdische Ghetto, wo sich 1421 300 Juden selbst verbrannt haben." Dass ein steinernes Denkmal nicht genügen könne, um das Vergessen zu verhindern, betonte Wiesenthal immer wieder. "Es ist für mich eine Genugtuung, dass dieses Denkmal eine Bibliothek darstellt, jüdische Denkmäler sind nicht aus Stein oder Eisen, sondern Bücher. Deswegen nennt man uns auch das Volk des Buches." Die Erinnerung an die über 65.000 von den Nazis ermordeten österreichischen Juden mache es ihm unmöglich, von einem "Tag der Freude" zu sprechen, erklärte Wiens Bürgermeister Michael Häupl. Die Debatte um Whitereads Mahnmal sei der Auftakt zu einer neuen Auseinandersetzung mit der Geschichte gewesen. Lange hätten "Selbstmitleid, Selbsttäuschung und Lüge" im Umgang mit der eigenen Geschichte geherrscht. Während Wiesenthal sich freute und meinte, "das Ziel ist erreicht", waren andere weniger euphorisch. So stellte etwa der Feuilletonchef der New York Times, Michael Kimmelman, verwundert fest: "Ich sehe keinen Verteter ihrer Bundesregierung." (rott/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. Oktober 2000)