Welt
Leben ist alles - und Sterben nur ein Betriebsunfall
In den Industrieländern hat man zu trauern verlernt - andere Kulturen tabuisieren den Tod viel weniger
"Ich möchte einschlafen - nach einem langen, erfüllten, erschöpfenden Tag." So wünscht einer zu sterben, der sich ins
"Kondolenzbuch" der Volkshochschule Hietzing eingetragen hat. "Sterben das letzte Abenteuer" nannte sich provokant eine
"lebende Installation" vor dem Palmenhaus in Schönbrunn, die die Fortbildner vor einem Jahr veranstaltet hatten. Man wollte
Denkanstöße geben - mithilfe von Pantomime, Lesung, Musik und eben einem Kondolenzbuch mit der Frage: "Wie wollen Sie
sterben?" Nicht gerade selbstverständlich, sich damit ohne Not zu befassen. "Schmutzig, peinlich"
Tod - das war in der Geschichte der Menschheit immer in den Lebenszyklus integriert und wurde in der Romantik sogar hoch
ästhetisiert. Seit dem 19. Jahrhundert betrachtet man den Tod jedoch zunehmend als "schmutzig, peinlich, unschicklich" -
als "unwiderrufliches Scheitern" und "peinlichen Störfaktor" des ärztlichen Tuns, wie es der Soziologe und Ethnologe Andreas
Obrecht beschreibt. Der Leiter des Interdisziplinären Forschungsinstituts für Entwicklungszusammenarbeit in Linz beschäftigt
sich seit Jahren mit Geistheilern und ihrem anderen Umgang mit Krankheit, Schmerz und Tod.
Obrecht konstatiert eine Renaissance spiritueller Krankheits- und Sterbebegleitung, die oft sogar über die Schwelle zum
Totenreich hinaus versprochen wird.
Die außerhalb der westlichen Industrieländer nach wie vor praktizierten Rituale für Abschied und Kontaktaufnahme mit den
Verstorbenen werden offenbar schmerzlich vermisst. Der unvermeidliche Tod wird gern verdrängt - schließlich bedeutet er
Abbruch und somit die vehementeste Bedrohung des höchsten Guts in den reichen Ländern der Welt: der Individualität.
Krankheit und Tod gelten als "Funktionsstörungen der Maschine Mensch", sagt Obrecht im STANDARD-Gespräch.
Sich vom Leben zu verabschieden falle immer schwerer: Es gebe so viele "Zeitnutzungsoptionen", dass man auch in einem
sehr langen Leben nur einen Bruchteil des Angebots nutzen könne. "Unterm Strich bleibt immer ein Mangel - auch wenn man
erst mit neunzig stirbt", resümiert der Forscher.
Früher tröstete man sich mit der Aussicht auf Glück im Jenseits. Aber der Glaube daran schwindet in einer säkularisierten
Umwelt rapide: Nur mehr 37 Prozent der Österreicher glauben an ein Leben nach dem Tod.
Doch fast alle christlichen und schamanischen "Heiler" sehen das Sterben lediglich als eine Transformation zu anderen
Existenzformen. Und auf diesem Weg wird der Kranke begleitet. Die Heiler sind oft Psychotherapeuten oder Seelsorger und
lassen sich nicht herkömmlich, sondern höchstens mit Spenden "bezahlen". Sie nehmen sich vor allem Zeit - auch für die
Angehörigen - und der Sterbende "darf" gehen. Der Markt sei "riesig", wie Obrecht vermerkt, allerdings ist Geistheilen in
Österreich verboten. Obrecht hat darüber zwei Bücher veröffentlicht: "Die Welt der Geistheiler", 1999 und "Die Klienten der
Geistheiler", 2000, beide im Böhlau-Verlag erschienen.
Skurrilitäten
Was bei uns verpönt ist, gehört in anderen Kulturen zur Normalität: lächeln und lachen bei Beerdigungen beispielsweise.
Beim mexikanischen "Tag der Toten" (1. November) werden einmal jährlich die Toten "zurückgebeten" und feierlichst bewirtet.
Dabei wird ausgelassen getanzt und gebechert. Der Ethnologe Nigel Barley berichtet in seinem Buch "Tanz ums Grab" (dtv,
2000) von den Betsileos auf Madagaskar, wo vor der Beerdigung Stierkämpfe veranstaltet und Orgien abgehalten werden. Das
Volk der Yoruba in Nigeria wiederum betrauert nur den Tod von Jugendlichen. Stirbt ein alter Mensch, wird gefeiert.
Platz für Skurrilitäten gibt es natürlich in good old England. Dort ist die Asche des Toten Hauptziel in Sachen "Exzentrizität".
Der Fußballklub Manchester United erhält alljährlich zig Anfragen, ob die Asche über dem Spielfeld verstreut werden darf. In
den USA setzt man wiederum auf "witzige" Grabsprüche, wie: "Glaubst du mir jetzt meine Krankheit?"
Gemeinsames Kennzeichen des Totenkultes in westlichen Industriestaaten ist außer der Ernsthaftigkeit die gute Nachrede:
"Über Tote spricht man nicht schlecht", heißt es. Die Folge ist, den Toten in der Erinnerung zu idealisieren. Wenn
gesprochen wird, dann in höflichen Euphemismen. Ethnologe Barley dazu: "Verfasser von Nachrufen müssen Meister in der
Kunst sein, Kritik durch die Blume zu üben. Übellaunige Verstorbene konnten ,Torheit nur schwer ertragen' und unflätige
Greise entpuppen sich als ,lebenslustiges altes Haus'."
Einige Kulturen gehen einen ganz anderen Weg: Sie radieren die Toten aus ihrem Gedächtnis. Die Mbuti-Pygmäen in Afrika
dürfen nicht einmal mehr die Namen der Verstorbenen sagen. Hier ist das Vergessen angemessen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 10./1. 11. 2000).