International
Welche Freiheit bringt der Handel ein?
Die USA und das Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone - Nationale Sicherheit und kontinentale Hegemonie
Die Wahl von Vicente Fox in Mexiko, die der siebzig Jahre währenden Vorherrschaft
der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ein Ende setzte; die Einmischung
der USA in Kolumbien; Neuwahlen in Peru, die Präsident Fujimori wegen Unregelmäßigkeiten
bei seiner letzten Wiederwahl ankündigen musste - all dies sind Störfaktoren bei den
diskret geführten Verhandlungen, die bis 2005 zur Errichtung einer gesamtamerikanischen
Freihandelszone führen sollen. Das Interesse der USA dabei: einen riesigen Markt zu
schaffen und zugleich die Vormachtstellung auf dem Doppelkontinent zu zementieren. - von Janette Habel
Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Schaffung eines gesamtamerikanischen Wirtschaftsraumes
zu einem wichtigen Punkt auf der politischen Tagesordnung der USA. Die Verhandlungen
zur Bildung eines gemeinsamen Marktes, der Free Trade Area of the Americas (FTAA),
begannen 1994 in Miami mit 34 Teilnehmerländern, Kuba blieb ausgeschlosssen. 1998
wurde in Santiago de Chile weiterverhandelt, im Jahr 2005 sollten die Verhandlungen
abgeschlossen sein. Nach Vorstellungen Washingtons wird die gesamtamerikanische Freihandelszone
ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit einläuten, da sie erstmals beide Hälften der
Hemisphäre in einem Projekt vereint.
Die Vorstellung wird von einem Teil der lateinamerikanischen Führungseliten geteilt.
Das mag angesichts der wirtschaftlichen Aggressivität und der Hegemonie der USA überraschen,
wird jedoch angesichts der Schwierigkeiten verständlich, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten angehäuft haben. Das Scheitern des herkömmlichen, national ausgerichteten
Entwicklungsmodells; die Schuldenkrise Anfang der Achtzigerjahre, die zur Durchsetzung
einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik führte (d.h. Deregulierung, Privatisierungen,
Liberalisierung des Handels); die nur begrenzte Vereinbarkeit der unterschiedlichen
Volkswirtschaften, die eine gemeinsame Entwicklungsstrategie erschwert - all das sind
Probleme, die ein rein südamerikanisches Integrationsprojekt wenig glaubwürdig machen.
Eines der wichtigsten Ziele für die kleinen Länder ist es, sich einen langfristigen
Zugang zum nordamerikanischen Markt zu sichern und ausländische Investitionen zu begünstigen
(von 34 Staaten gelten 24 als kleine Volkswirtschaften).
Exportvolumen hat sich verdreifacht
Der US-amerikanischen Handelsbeauftragten Charlene Barshevsky zufolge hat sich "das
Exportvolumen [nach Lateinamerika] zwischen 1990 und 1996 verdreifacht. 1996 ist es
doppelt so schnell gewachsen wie der US-Handel mit der restlichen Welt. Für die USA
ist Lateinamerika ein wichtigerer Markt als die Europäische Union." So erklärt sich,
dass die USA das Ziel verfolgen, die Volkswirtschaften des Kontinents mit ihren immer
noch stark geschützten Märkten weiter zu liberalisieren. "Man kann die FTAA mit einer
Monroe-Doktrin für das 21. Jahrhundert vergleichen", sagen die Professoren Victor
Bulmer-Tomas und Sheila Page.2 "Erfolgreiche Verhandlungen würden zweifellos die ökonomischen
und auch die politischen Bindungen zwischen den Ländern Lateinamerikas und den USA
festigen und entsprechend die Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union schwächen."
Bereits im August dieses Jahres hat die US-amerikanische Außenministerin Madeleine
Albright anlässlich ihrer Argentinienreise dafür plädiert, die Deregulierung des Telekommunikationssektors
voranzutreiben, um das Monopol der spanischen Telefónica und der französisch-italienischen
Telecom zugunsten der großen US-Firmen zu brechen.(3)
Die geplante Freihandelszone ist auch für die Sicherheitspolitik Washingtons von
Interesse. Nach dem Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1991 haben sich neue Gefahren ergeben:
Drogenhandel, Geldwäsche, illegale Einwanderung, Terrorismus, Umweltzerstörung usw.
Polizeiliche Kontrollmechanismen, Grenzüberwachung und generell die Sicherheit des
Kontinents sind ein fester Bestandteil des verabschiedeten Aktionsplans.
Druckmittel: Kampf gegen den Drogenhandel
Ein hervorragendes Druckmittel gegen die Regierungen der Region ist der Kampf gegen
den Drogenhandel. Die Bemühungen von Madeleine Albright, eine größtmögliche Anzahl
von Staaten in den "Plan Colombia" einzubeziehen, machen deutlich, dass es dabei auch
um eine Ausweitung der US-Präsenz geht.(4) Dieser Plan dient vorgeblich der Bekämpfung
des Drogenhandels, richtet sich in Wahrheit aber gegen die Guerilla der Revolutionären
Streitkräfte Kolumbiens (FARC). Auch die Rolle der Organisation Amerikanischer Staaten
(OAS) wird aufgewertet. Ihre Charta, die 1992 mit dem Washingtoner Protokoll reformiert
wurde, sieht bei politischen Krisen oder einem Stocken der Demokratisierungsprozesse
ein "Einmischungsrecht" vor.
Washington schlägt also im Namen der von den internationalen Finanzinstitutionen
gepredigten Prinzipien der good governance vor, die Handelsbarrieren auf dem gesamten
Doppelkontinent zu Fall zu bringen. Im Grunde aber geht es um die Verankerung eines
weltweiten ökonomischen Projektes, in dem Lateinamerika nur ein Element darstellt:
um die Durchsetzung eines Wirtschaftsprogramms, das den Bedürfnissen multinationaler
Konzerne entgegenkommt. Tatsächlich ist die FTAA, wenn die USA ihre Position durchsetzen,
"als eine Pioniertat zu betrachten für die nächste Generation von Handelsverträgen
im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO"(5).
Es geht also darum, neue Vorschriften und Regelungen einzuführen. Einige Bereiche
fallen zwar in den Zuständigkeitsbereich eines WTO-Vertrages, doch andere sind im
lateinamerikanischen Kontext noch nicht angesprochen worden. So zum Beispiel die Frage
staatlicher Auftragsvergabe, ein Thema, das um so heikler ist, da es "die Konzeption
des Staates, seine Beziehungen zur Privatwirtschaft und seine Souveränität betrifft",
wie sie in den lateinamerikanischen Verfassungen garantiert waren, "die etwa eine
Vorzugsbehandlung für staatliche Unternehmen vorschrieben"(6).
Diese Vorzugsbehandlung wollen die US-Multis angreifen, wenn sie das Ende der "Diskriminierungen"
fordern. "Es handelt sich um eine Versicherungspolice gegen alle Tendenzen, die einer
Rückkehr zum Protektionismus wohlwollend gegenüberstehen", so die Zusammenfassung
eines Experten.
Der künftige riesige Markt des Doppelkontinents würde sich in einen "Wirtschaftsraum
verwandeln, in dem Waren und Kapital völlig frei zirkulieren, und überdies den normativen
Rahmen eines neuen Integrationsmodells liefern"(7). Aber natürlich soll das Prinzip
der freien Zirkulation nicht für Personen gelten.
"Die Demokratie stärken, durch wirtschaftlichen Zusammenschluss zum Aufschwung der
Demokratie beitragen. Die Demokratie durch nachhaltige Entwicklung festigen" - so
lautet der Titel des 1998 verabschiedeten Aktionsplans. Seine Befürworter versichern,
eine auf einer stabilen Ökonomie gegründete Partnerschaft, auf der Basis von Wettbewerb
und ökonomischer Integration, führe zu einer nachhaltigen Entwicklung. "Der Freihandel
bringt ungleiche Verpflichtungen mit sich, die auf den Entwicklungsländern schwerer
lasten als auf den Partnern in den Industrieländern", räumt Jeffrey Schott ein, ein
Experte des US-Senats. Doch dieses Ungleichgewicht werde dadurch "wettgemacht", dass
der Freihandel "das Land für ausländische Investoren attraktiver macht"8.
Dabei zeigt die Erfahrung Mexikos seit Inkrafttreten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens
Nafta, dass eine Öffnung des Handels gegenüber einem sehr viel weiter entwickelten
Land zur Deindustrialisierung führt, zur Vernichtung ganzer Bereiche der traditionellen
Landwirtschaft, zu gravierenden regionalen Ungleichgewichten und zu einer Verschärfung
der sozialen Ungleichheit.
Vielschichtige Handelsabkommen
Wie erklärt sich angesichts der strategischen Bedeutung dieses Projekts, dass es
nur langsam in die Gänge kommt? Die Vielschichtigkeit und Komplexität der regionalen,
subregionalen oder bilateralen Handelsabkommen, die sich auf dem Kontinent überlagern
- allein 1997 wurden 56 solcher Verträge abgeschlossen - machen ihre Harmonisierung
im Rahmen der FTAA besonders schwierig. Überdies bremsen soziale und politische Faktoren
den Aufbau eines einheitlichen Marktes.
Dies gilt zum Beispiel für die Länder des Andenpakts: In Kolumbien herrscht Bürgerkrieg.
In Ecuador ist die Wirtschaftskrise nach wie vor höchst virulent. Die Spannungen zwischen
Venezuela und den USA haben sich verschärft, seitdem Präsident Hugo Chávez sich mit
Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi getroffen hat und sich bemüht, die Erdöl exportierenden
Länder der Opec auf eine Linie einzuschwören. In Peru hat die umstrittene Wahl von
Alberto Fujimori Protestbewegungen ausgelöst, die seinen Rücktritt herbeigeführt haben.9
Hinzu kommt, dass die geopolitischen Zielsetzungen, auch wenn die ökonomischen Interessen
sich zunehmend überschneiden, immer noch divergieren. Die Andenpakt-Staaten haben
auf ihrem Gipfeltreffen im vergangenen Juni in Peru in Anwesenheit der bolivianischen,
ecuadorianischen, kolumbianischen und venezolanischen Staatspräsidenten für das Jahr
2005 - in diesem Jahre sollen die Verhandlungen für die amerikanische Freihandelszone
abgeschlossen sein - die Schaffung eines regionalen gemeinsamen Marktes und eines
"nationalistischen Andenblocks" beschlossen. Darüber hinaus steht der Andenpakt in
Verhandlungen mit den Ländern des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay
mit den Assoziierten Chile und Bolivien). Und schließlich haben dieselben Andenländer
auf dem Treffen der südamerikanischen Regierungen in Rio de Janeiro am 1. September
der Bildung eines Lateinamerikanischen Blocks im Jahr 2002 zugestimmt.
In der Tat beansprucht Brasilien, die wirtschaftliche Integration zu steuern und,
gestützt auf die Basis eines gefestigten südamerikanischen Blocks, mit den USA zu
verhandeln. Doch der Ehrgeiz des mächtigsten Landes auf dem Subkontinent stört seine
kleineren Partner Uruguay und Paraguay, die das Hegemoniestreben Brasílias beklagen
(das brasilianische Bruttoinlandsprodukt repräsentiert 70 Prozent des BIP des gesamten
Mercosur). Überdies sehen sich die kleinen Länder wegen einer bestehenden bilateralen
Partnerschaft zwischen Brasília und Buenos Aires beiseite geschoben.
Argentinien wiederum hat in der Vergangenheit Interesse am Nafta-Vertrag bekundet
und mehrmals den Gedanken der Dollarisierung verteidigt, die das Risiko von Währungsschwankungen
ausschließen soll. Washington sieht Argentinien als privilegierten Partner der Nato.
Guido di Tella, der ehemalige Außenminister unter Carlos Menem (mittlerweile der Beihilfe
zum Waffenschmuggel angeklagt), sprach in diesem Sinne sogar von "körperlichen Beziehungen"
mit den USA.
Politische Widersprüche in den USA
Neben diesen Schwierigkeiten müssen auch politische Widersprüche in den USA selbst
überwunden werden. Obwohl der amerikanische Freihandelsvertrag eine Initiative des
damaligen Präsidenten George Bush war, die von Bill Clinton vorbehaltlos unterstützt
wurde, ist es Clinton nicht gelungen, im Kongress die fast track-Regel durchzusetzen
- ein Schnellverfahren, das eine Beschlussfassung im Kongress ermöglicht hätte. Die
Befürchtungen angesichts der durch den Nafta-Vertrag ausgelösten mexikanischen Krise
im Jahr 1994 sowie die Weigerung der Republikaner, Sozial- oder Umweltschutzklauseln
in das Vertragswerk mitaufzunehmen, die aber von US-Gewerkschaften (die ein Sozialdumping
befürchten) und Umweltlobby gefordert werden, haben die Verhandlungen gebremst.
"Stop fast track", fordert die AFL-CIO-Gewerkschaft und verweist auf den Verlust
von 420 000 Arbeitsplätzen nach Inkrafttreten des Nafta-Vertrags sowie auf den Verfall
der ohnehin niedrigen Löhne. Die US-amerikanischen Gewerkschaften stehen der gesamtamerikanischen
Freihandelszone ablehnend gegenüber. Doch ihre Haltung ist nicht frei von Widersprüchen:
"Fast track to unsafe foods", "fast track to more drugs in our schools", "fast track
to unsafe highway" (auf schnellstem Weg zu unsicheren Lebensmitteln, zu mehr Drogen
in unseren Schulen, zu unsicheren Autobahnen), verkündet die Lastwagenfahrergewerkschaft
- als lägen die Gründe für die Unsicherheit und den Drogenhandel lediglich auf einer
Seite. Die US-amerikanischen Nichtregierungsorganisationen und Umweltschutzgruppen
klagen die "multinationalen amerikanischen und kanadischen Unternehmen" an, "Lateinamerika
als Gelegenheit zu betrachten, um niedrige Lohnkosten und weniger strikte Umwelt-
und Gesundheitsschutzvorschriften auszunutzen"10.
Schließlich wurden die Verhandlungen auch noch durch die Absicht der USA gebremst,
auf bilateraler Ebene mit den einzelnen lateinamerikanischen Ländern zu verhandeln.
Der Ausbau subregionaler Bindungen erweist sich für die großen Firmen als so günstig,
dass einige US-Experten es für effizienter halten, den Mercosur als strategischen
Partner zu behandeln statt als regionalen Konkurrenten.
Dieser Standpunkt scheint sich durchgesetzt zu haben. Trotz aller derzeitigen Schwierigkeiten
und der absehbaren Verzögerungen ist der wirtschaftliche Zusammenschluss also auf
den Weg gebracht - egal ob er letztlich über Verhandlungen zwischen den Blöcken oder
über eine progressive Ausweitung des Nafta-Vertrags auf andere Länder umgesetzt werden
wird, oder gar durch die Ausweitung bilateraler Abkommen.
In jedem Fall wird der künftige US-Präsident bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt
über den einzuschlagenden Weg entscheiden müssen, denn der dritte gesamtamerikanische
Gipfel wird im April 2001 in Quebec stattfinden. Beide Kandidaten, George W. Bush
und Al Gore, zeigen sich entschlossen, noch vor diesem Termin den fast track durchzusetzen.
Die entsprechenden Erklärungen des Bush-Beraters Robert Zoellick sind eindeutig. Der
gewählte Präsident wird die Initiative ergreifen und der Angelegenheit Priorität einräumen
müssen, das wird aber eine Konfrontation mit den US-amerikanischen Gewerkschaften
bedeuten.(11)
Nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen in Seattle scheint die FTAA zum Ersatzprojekt
zu werden: zu einer Reservestrategie, mit der sich über Umwege und zunächst nur auf
regionaler Ebene das umsetzen lässt, was weltweit nicht durchsetzbar ist.
Die Unausgewogenheit dieser regionalen Partnerschaft, die aus der geringen Wettbewerbsfähigkeit
der lateinamerikanischen Volkswirtschaften resultiert, wird durch die unerbittlichen
Handelspraktiken der USA noch potenziert. Charlene Barshevsky zufolge hat Washington
seinem Nafta-Partner Mexiko gedroht, die WTO anzurufen, um das Land zu nötigen, seinen
Telekommunikationsmarkt zu öffnen, das staatliche Unternehmen Teléfonos de México
nicht mehr zu protegieren und somit "aufzuhören, den amerikanischen Interessen zu
schaden"12. Die Asymmetrie der Liberalisierung zeigt sich darin, dass das Bruttosozialprodukt
der USA 16-mal höher ist als das brasilianische, 25-mal höher als das mexikanische
und 30-mal höher als das argentinische - von den ärmsten Ländern des Kontinents ganz
zu schweigen.
Die entstehende neue Ordnung gründet auf zwei Prinzipien: "Dem juridischen Gleichbehandlungsprinzip
und dem ökonomischen Prinzip des freien Wettbewerbs",
konstatieren Christian Deblock
und Dorval Brunelle. Einfacher ausgedrückt: Der Fuchs soll freien Zugang zu den ebenfalls
"freien" Hühnern im Hühnerstall bekommen. Allen anfänglichen Ungleichheiten zum Trotz
sollen die individuellen Privatrechte Vorrang vor den sozialen Rechten haben. So lautet
der Konsens der so genannten Zivilgesellschaft (die sich in den Verhandlungen meist
auf die Geschäftswelt reduziert). Er muss die Grundlage des Gesetzes bilden, und eben
nicht der Staat, der seine traditionellen Vorrechte verloren hat. Dies ist umso leichter
umzusetzen, als der Staat seine Legitimität eingebüßt hat, da er die Folgen der Strukturanpassung
auf die Arbeitnehmer abwälzten musste, und dies zu einem Zeitpunkt, da die Korrumpierbarkeit
der Eliten offen zutage trat.
Ist einer derartig ungleichen Integration ein entwicklungspolitisches Projekt entgegenzusetzen?
Oder haben die lateinamerikanischen Regierungen gar keine andere Wahl, wenn sie auf
dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben wollen, wie es die liberalen Ökonomen behaupten?
Für den brasilianischen Soziologen Emir Sader geht es darum, sich zwischen einer
amerikanischen Freihandelszone, die aus Lateinamerika ein riesiges zollfreies Gebiet
macht, oder einem erweiterten und auf der Grundlage eines alternativen Integrationsprojekts
vertieften Mercosur zu entscheiden.13 Die Absicht von Hugo Chávez und Fidel Castro,
ein Projekt aus dem Geiste Bolivars heraus anzugehen, ist ein Versuch, auf das Fehlen
eines politischen Integrationsprojekts in Lateinamerika zu reagieren. Doch ein solches
Anliegen setzt die Existenz einer lateinamerikanischen Bourgeoisie voraus, die geschlossen
hinter einer Entwicklungsstrategie und dem dazugehörigen Gesellschaftsentwurf steht.
Und die entschlossen ist, den US-amerikanischen und europäischen Konzernen die Stirn
zu bieten. Indes, "der politische Wille zur Einheit ist nicht stark genug, um die
ökonomischen Interessen zu überwiegen. Dies birgt das Risiko, dass ein solches Projekt
in jeder wirtschaftlichen Krisenperiode in den Partnerländern immer wieder in Frage
gestellt wird."14 In der Tat hat der Mercosur seit der Abwertung des Real in Brasilien
einige Zerreißproben durchlebt, die Beziehungen zwischen Brasília und Buenos Aires
sind in einer schwierigen Phase. Die beiden Länder ziehen in ihrer technologischen
Entwicklungspolitik nicht am selben Strang, und das Regionalbewusstsein ist nicht
stark genug ausgeprägt, um die globalen Strategien der multinationalen Konzerne konterkarieren
zu können.
Ein alternatives Integrationsprojekt hat nur dann Erfolgsaussichten, wenn es über
soziale Legitimität verfügt. Die aber kann auf einem Kontinent, der die weltweit krassesten
sozialen Gegensätze aufweist, nur auf der Basis eines Programms für soziale Gerechtigkeit
und tief greifender wirtschaftlicher Umwälzungen entstehen. Seit 1990 hat sich die
Kluft zwischen Reich und Arm noch vertieft. Nach Angaben der interamerikanischen Entwicklungsbank
(BID) müssen 150 Millionen Menschen mit knapp zwei Dollar täglich auskommen.
Eine Analyse der von den amtierenden Regierungen ergriffenen politischen Maßnahmen
zeigt, dass sie diesen Weg nicht gewählt haben.
Um mit den brasilianischen Produkten
auch nach der Abwertung des Real mithalten zu können und die Wettbewerbsfähigkeit
Argentiniens zu verbessern, hat die argentinische Regierung Maßnahmen ergriffen, die
eine erhöhte Flexibilität der Arbeit gewährleisten und somit die Produktionskosten
senken sollen. Andere Reformen sind bereits angekündigt, insbesondere die Deregulierung
der sozialen Sicherungssysteme - in einem Land, wo 40 Prozent der wirtschaftlich aktiven
Bevölkerung "schwarz" arbeiten, also ohne jegliche soziale Absicherung. In Brasilien
haben aufgrund der wirtschaftlichen Öffnung die Unternehmen massiv Stellen abgebaut,
und der informelle Sektor ist derart sprunghaft angewachsen, dass es heute im privaten
und öffentlichen Sektor mehr informelle als registrierte Arbeitnehmer gibt.
Welchen Wert kann man den von den Regierenden verkündeten sozialen Anliegen unter
derartigen Bedingungen noch beimessen? Die im Juni 2000 verabschiedete Sozialcharta
von Buenos Aires sieht keinerlei Zwangsmaßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer vor.
Und das, obwohl nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die Internationalisierung
der Produktion die Möglichkeiten für kollektive Tarifverhandlungen eingeschränkt hat
und die Rechtsverletzungen im Arbeitssektor zunehmen.
Wenn die ohnehin verarmte lateinamerikanische Bevölkerung nur noch wählen kann, ob
sie von einem Neoliberalismus US-amerikanischer oder lateinamerikanischer Färbung
verspeist werden möchte, wird sie sich höchstwahrscheinlich gegen beide auflehnen.
Mangels alternativer Lösungen und angesichts des Booms von Unsicherheit und Elend
könnten die Gesellschaften, die gegen Drogenhändler und Korruption wehrlos dastehen,
im Chaos versinken. Der territoriale Zerfall und die soziale Zerrüttung einiger Regionen
sind bereits die Vorboten dieser Entwicklung.
So droht der Plan Colombia, weit davon entfernt, den Drogenhandel auszumerzen, einen
Exodus der Bevölkerung im Süden dieses Landes auszulösen. Bereits jetzt stehen 22
000 brasilianische Soldaten an der kolumbianischen Grenze bereit, um die erwarteten
Flüchtlingswellen zu stoppen. Indem sie, wenn auch widerstrebend, dem US-amerikanischen
Plan zugestimmt haben, der für Washington das strategische Herzstück zum Erhalt seiner
Hegemonie darstellt, haben sich einige lateinamerikanische Staatsoberhäupter in ein
gefährliches Räderwerk begeben. (Deutsch von Miriam Lang)
Die Autorin ist an der Universität Marne-La-Vallée und am Centre de Recherches et
d'Etudes sur l'Amerique Latine et les Caraïbes (CREALC) tätig.
1 Auf Spanisch Area de Libre Comercio de las Américas (ALCA).
2 Victor Bulmer Thomas und Sheila Page: "Trade Relations in the Americas: Mercosur,
the Free Trade Area of the Americas and the European Union", in dies.: "The United
States and Latin America: the New Agenda", London (Harvard University Press) 1999.
3 Gleichzeitig dürfte ein noch von Carlos Menem erlassenes Dekret zur Liberalisierung
des Luftraumes den Tod der von spanischem Kapital kontrollierten Aerolíneas Argentinas
bewirken und den Markt für die Gesellschaften United Airlines und American Airlines
öffnen.
4 Siehe Maurice Lemoine, "Kolumbien - eine Nation, zwei Staaten", Le Monde diplomatique,
Mai 2000.
5 Christian Deblock, Dorval Brunelle: "Le projet de Zone de Libre-échange des Amériques,
un regionalisme en trois dimensions", in: "Amérique Latine 2000", Bericht des Observatoire
sur l'Amérique Latine, Paris (La Documentation française), Juli 2000.
6 Olivier Dabène: "Le Mercosur et la Zone de Libre-échange des Amériques: vers la
convergence?", in: "Amérique Latine 2000", a. a. O.
7 Christian Deblock und Dorval Brunelle, a. a. O.
8 Institute for international economics before the Sub Committee on ways and means
(US-Senat), 22. Juli 2000.
9 Siehe Karim Bourtel, "Das System Fujimori", und Anne-Sophie Le Mauff, "Der Sieg
der Volksküche", Le Monde diplomatique, Juli 2000.
10 Andy Olivastro: "Will free trade come cheap?",
11. Mai 2000, http://www.policy.com. 11 Miami Herald, 16. März 2000.
12 Gleichzeitig wurde im Kongress ein Gesetzentwurf diskutiert, der die Kontrolle
der Deutschen Telekom über einen Provider aus Seattle (die Voice Stream Wireless Group)
blockieren sollte - mit der Begründung, der Hauptanteilseigner der Deutschen Telekom
sei die deutsche Regierung. Ein gutes Beispiel für den Freihandel amerikanischer Machart.
13 Emir Sader: "América Latina: integración o zona franca?", Quito (ALAI), 26. Juli
2000. Die Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro organisiert ein Seminar, das
im Februar 2001 stattfinden wird, um noch vor dem Gipfeltreffen von Quebec ein Alternativprojekt
zu entwickeln.
14 François d'Arcy: "Brésil: l'entrée à marche forcée dans la mondialisation". Paris