Wien - Der Traum vom Universalzettelkasten ist die letzte, nicht mehr ganz taufrische Hommage an eine übersichtlich geordnete Welt. Die Sehnsucht nach der umfassenden Erkenntnis, auf die einzig in modrigen Archiven zugegriffen werden kann, zehrt von einem altmodischen Bildungsbegriff. Die Archivbestände im Odeon sind ihre eigenen, köstlichen Klischees: die Bände naturgemäß speckig und stockfleckig; die Regale, in denen sie schimmeln und Staub ansetzen, zum Mindesten gebirgshoch. Die Archivare lauter Käuze unter lustigen kaukasischen Mützen, mit angeklebten Bärten, auf krummen Käferbeinen. Oben, in Regal 13, da muss doch noch . . . Man darf jetzt insgeheim auch an Fausts Studierstube, natürlich ohne erbauliche Gotik, ohne Butzen-Pathos, angstschaudernd denken. (Und der Geist, den Faust rief, darf heute ruhen.) Mit Schwefelhölzchen laufen unsere Schriftgelehrten zwischen den Lesetischen herum, aber auch ein paar Taschenlampenkegel wandern zwischen den Wänden. Die Gelehrten verbrennen sich die Finger und fallen im aufflammenden Licht voreinander fast in Ohnmacht. Huch! Aber auf eine besonders störrische Idee von Kauzigkeit hat Erwin Piplits sein Serapions-Theater seit je verpflichtet. Der besondere Wahnwitz von Ni Más, Ni Menos (was heißt das eigentlich?) liegt im Ausgangspunkt einer im folgenden undurchsichtigen Meditation. Einen ganzen Abend über das Schicksal der Schrift abzuhalten, und darüber kaum ein Wort zu verlieren: Das nötigt Respekt ab. Auch bestrickt die Idee, mit Büchern buchstäblich alles anzufangen, ohne sie aber lesen zu müssen. Man kann den Kopf ermüdet hineinlegen; das aufgeschlagene Buch mindestens im Oktav-Format auf dem Kopf balancieren (das sieht nach Arcimboldo aus); die schwersten Brocken auf den Boden klatschend werfen, was wie der Niedersturz eines mittleren Kometen kracht. In Erwin Piplits' und Ulrike Kaufmanns Archiven des Schweigens herrscht alle Zeit vergnügliche Betriebsamkeit. Nur muss man sich den schnöden und gewiss mühseligen Erwerb des in Aussicht gestellten Weltwissens halt nur denken. Das Theater wurzelt im Kopf, den man vor Besuch des Serapions-Theaters in der Getreidebörse hoffentlich mit Lektüren sonder Zahl ordentlich beschwert hat. Kein Vorwurf! Irgendwann ertönen Rilkes schöne Verse aus dem Stundenbuch : "Vielleicht, dass ich durch schwere Berge gehe . . ." Der aufschlussreiche Artikel des Prinzipals im Programmheft hilft, wie nur je ein Bergführer, beim Erklimmen der betörenden, gelegentlich auch nur törichten Bilder-Buchrätsel. Man rangelt; klar: Jeder will es besser wissen. Man erstarrt; zu viel Gelesenes macht fett. Einer trägt die Schwarte am Buckel, als Mühlsteine-Schlepper. Die zwölf Damen und Herren tragen weiße Japan-Masken auf dem Hinterhaupt. Ein Archivar kullert wie ein Sündenapfel vom Tisch. Ein anderer legt den Fuß als Beweismittel auf das Pult und weist auf den Großen Zeh': Da drin sitzt Wissen. Man wird es aus ihm heraus kitzeln müssen. Denn der lange, müde Abend hält sich auffällig bedeckt: Folg' mir ans Lesepult. Am Schluss wird der Bibliothek pfingstlich der Garaus gemacht: Flammen lodern von den Borden, Qualm legt sich verfinsternd über die Szene, und hinten rutscht eine Dame im Versuch, ein paar Papyri zu retten, wiederholt von der Buch-Kletterwand. Herostratos, hilf! So dekorativ kann Zerstörung sein. Das nächste Mal muss dann Bill Gates helfen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 11. 2000)