London - Eines der größten Probleme im Kampf gegen HIV und andere Viren ist deren hohe Mutationsrate, die sie zu rascher Resistenz gegen Therapeutika befähigt. Deshalb setzen herkömmliche Strategien auf Verstärkung der Gegenmittel und wollen die Viren mit breiten Medikamentencocktails lahm legen. Aber ein Forscher, Larry Loeb (University of Washington, Seattle), schlägt die exakte Gegenrichtung vor: Wie im Judo jede Bewegung des/der AngreiferIn von dem/der VerteidigerIn aufgenommen, verstärkt und gegen den/die AngreiferIn gelenkt wird, will Loeb die Mutationsrate der Viren so erhöhen, dass sie sich ihr eigenes Grab graben."Irrtumsschwelle" Die Idee geht auf mathematische Modelle zurück, mit denen der deutsche Biophysiker Manfred Eigen vor bald 30 Jahren zeigte, dass es für jedes sich replizierende System eine "katastrophale Irrtumsschwelle" gibt, bei der vor lauter fehlerhaften - mutierten - Kopien kein Original mehr vorhanden ist. Das gilt für sich mehrende Viren ebenso wie etwa für heilige Texte, die von mittelalterlichen Mönchen wieder und wieder händisch kopiert wurden. Während den Mönchen aber daran lag, die Fehlerzahl gering zu halten, treiben Viren ihre Kopierfehler - die Mutationen, die ihnen in wechselnden Umwelten das Überleben sichern - ins Extrem und halten sich nur knapp unterhalb der "Irrtumsschwelle". Das gilt vor allem für HIV: 90 bis 95 Prozent der Viren im Blut eineR Infizierten sind so stark mutiert, dass sie sich nicht mehr mehren können. Aber die restlichen reichen. Schreibfehler mehren Deshalb will Loeb die ganze Population über die Schwelle treiben und ihr durch "letale Mutagenese" den Garaus machen: Wenn ein HI-Virus in eine Zelle eingedrungen ist, stellt es zunächst aus seinem RNA-Genom eine DNA-Kopie her. Dazu verwendet es die in der Zelle bereitliegenden Nukleinsäuren. Die Zelle verwendet vier (A, C, G, T), aber es gibt noch andere und den vieren sehr ähnliche ("Basenanaloge"), die in seltenen Fällen anders wirken und Schreibfehler - Zusatzmutationen - in die RNA/DNA-Übersetzung bringen können. Das nutzt Loeb: Er hat in HIV-infizierte Zellkulturen "Basenanaloge" eingebracht und die Viren alle paar Tage in neue Zellen transferiert. Die ersten 14 Mal passiert nichts, nach dem 15. Transfer brach die Virenpopulation in null zusammen, sie war zu Tode mutiert. Ob das der Ansatz zu einer HIV-Therapie sein könnte - das Problem liegt in der extrem hohen Dosierung der Basenanaloge -, will Loeb noch dieses Jahr an Affen testen. Bei Erfolg will er in zwei Jahren an Menschenversuche.(jl) (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 2.11.2000)