Literatur
Die entzerrte Zeit
Ein "tagebuch"-Gastspiel auf derStandard.at
Wien - Wenn in Zeiten wie diesen Hunderttausende Menschen den Tratsch
und die kleineren und größeren Kalamitäten in TV-Wohngemeinschaften
mitverfolgen, dann halten gleichzeitig viele von diesen Voyeuren nicht
ohne Genuss für sich fest, dass "Alltag" - egal wie inszeniert er auch
immer sein mag - doch weit über das hinausgeht, was gemeinhin als
"berichtenswert" in den Medien seinen Niederschlag findet.
Gegenwart ist ja - von den erdrutschartigen Neuigkeiten abgesehen - nur
bedingt dramatisch. Sie ergibt sich meist in kleineren atmosphärischen
Verschiebungen und banalen Details. Also wird er mitunter doch wieder
laut: Der Ruf nach kleineren, unaufwendigeren, nichtsdestotrotz über
längere Zeiträume sich erstreckenden Erzählformen.
Tagebücher zum Beispiel: Wer heute die Aufzeichnungen der Brüder
Goncourt aus dem 19. Jahrhundert oder - aus jüngster deutscher Gegenwart
stammend - Peter Rühmkorffs Alltags-Notizen liest, der weiß: Egal, wie
viel hier beschönigt, verfremdet, manipuliert sein mag - gerade in
diesen kleinsten, gleichsam seismographischen Aus- und Anschlägen werden
Zeitläufe und ihre Protagonisten besonders deutlich nachvollziehbar.
Ohne Buhlen um Popularität
Was also, wenn dem TV-Container-Tratsch heute in geschriebener Form aus
vielfältiger Perspektive verstärkt Ausformuliertes entgegengehalten
würde? Ohne Buhlen um Popularität. Ohne eliminierende Abwahlverfahren.
Im Wiener echoraum beschäftigt man sich schon seit Jahren mit Versuchen
einer "privateren" Kommunikation von Texten/Botschaften/Beobachtungen.
Als zuerst die beiden Gründer des kleinen Theater- und Kulturvereins,
Joseph Hartmann und Werner Korn, ihr Schaffen kontinuierlich in Brief-
und Mail-Verkehren dokumentierten, standen sie gewissermaßen auch in den
Anfängen der heutigen elektronischen Mailboxen und Chatrooms,
verweigerten sich jedoch von Beginn an dem in diesen Medien
grassierenden verbalen Dünnpfiff.
Kollektives Tagebuch
"Diskretion, Ironie, Abschwächung von Interpretation, keine Sätze mit
großer Geste, Unaufgeregtheit, keine Eskalationen, Kargheit": Dies
bescheinigten denn auch 1998 die Literaten Herbert Maurer, Wilhelm Pevny
und Peter Waterhouse in einem "Gutachten" jenem Projekt, das gleichsam
die logische Konsequenz der Notate von Korn und Hartmann war: Einem
kollektiven tagebuch, das seit Jänner 1997 die heimische Textlandschaft
bereichert - und doch vor der Öffentlichkeit praktisch geheim gehalten
wird.
15 Autoren und Autorinnen, darunter Korn, Hartmann, die Künstlerinnen
Gerda Lampalzer und Hanna Schimek, der Physiker Gerhard Grössing oder
die Filmer Gustav Deutsch und Peter Tscherkassky - allesamt keine
"professionellen Schreiber" -, verfassen an ihren Computern mehr oder
weniger regelmäßige Tageseinträge, zu Hause oder auf Reisen. Diese
Texte, in denen politische Meinungen ebenso manifest werden, wie ganz
triviale Alltagsbeobachtungen - von familiärer Routine bis hin zu
beruflichen Erfahrungen - werden als Mails an einen List-Server
geschickt, worauf dann täglich um Mitternacht die Eintragungen eines
Tages allen Beteiligten zugesandt werden.
"Digest"
Zugänglich und lesbar war dieser "Digest" bis dato nur für die Autoren.
Und diese gehen im Wissen um die Freiheiten, die ihnen die "Privatheit"
gestattet, sehr vorsichtig mit möglichen Öffnungen nach außen um.
Derzeit steht in einem Zimmer des Echoraums lediglich das
tagebuch-Objekt - ein transparenter Behälter, in dem sich eine
layoutierte und ausgedruckte Ausgabe des tagebuchs befindet. Als oberste
Seite ist die jeweils letzte aktuelle Seite des Ausdrucks sichtbar und
für die Besucher bei Veranstaltungen lesbar. Und es gibt noch ein
kleines Bändchen mit Fotos von Lisl Ponger, die erratisch Arbeitsplätze
der Autoren unter dem Titel Der Platz an dem ich schreibe präsentierte.
Nun wird das Tagebuch erstmals im Internet für die Dauer eines
Monats der Öffentlichkeit zugänglich gemacht - in Kooperation mit
derStandard.at Jetzt kann man als Leser selbst überprüfen, was Peter
Waterhouse über das tagebuch schrieb:
Er glaubte nämlich schon im Frühjahr 1998, "dass das private Sprechen
des tagebuchs in Konkurrenz zum öffentlichen Sprechen treten sollte,
also veröffentlicht werden soll, da das private Sprechen ,Zeit entzerrt'
und damit eine Melodie hervorholt. (Vielleicht ist dieses tagebuch ein
Verwandter der Poesie? Die zumeist auch nicht öffentlich spricht, doch
das Öffentliche zum Platzen bringen kann.)" (Claus Philipp, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. November 2000)