In der Berliner Oranienstraße im Bezirk Kreuzberg prangt ein Graffiti, das die "deutsche Leitkultur" fundamental angreift: "Deutschland muss sterben, damit wir leben können." Es stammt vermutlich von Autonomen, die eine staatliche Autorität grundsätzlich ablehnen und sich darin mit jenen muslimischen Bürgern verständigen könnten, die auch lieber ihre eigenen, fundamentalistischen Regeln durchsetzen würden, als das laizistische deutsche Gesetzeswerk zu akzeptieren. Beide Gruppen, die Autonomen wie die Anhänger einer radikalen Scharia, sind Minderheiten im türkisch geprägten Kreuzberg, aber sie bestimmen das Stadtbild: Mit Transparenten über der Straße fordern die Autonomen Solidarität mit straffällig gewordenen Freunden, mit den Kopftüchern differenzieren sich die türkischen Frauen, ob freiwillig oder gezwungen, von ihren westlich geprägten Freundinnen. Von einer Leitkultur ist weder in Kreuzberg noch in der neuen Mitte der Berliner Republik viel zu sehen, es sei denn, man würde sie direkt mit einer global gewordenen Konsumentenkultur gleichsetzen. Es geht aber um den kleinsten gemeinsamen Nenner des Lebens in einem Land. An der Äußerung des CDU/CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz über eine "deutsche Leitkultur" ist vieles richtig, nur nicht die Verwendung des Begriffs "Kultur" und die Implikation einer "Leitung". Dass Merz sein Wort mittlerweile auf den politischen Inhalt der Verfassung hin relativiert hat, beleuchtet nur den polemischen Charakter seiner ursprünglichen Aussage. Auch als bloß leichtfertiger Provokateur hat er ein tiefes Unbehagen der deutschen Konservativen zum Ausdruck gebracht, denen nicht nur die Regierungsfunktion, sondern zudem ein tauglicher Kulturbegriff verloren gegangen ist. Deutsche Mythologie Angela Merkels Besuch bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen mag eine bloße Episode gewesen sein und zeigte natürlich die berechtigte Freude einer Frau, die durch ihr neues politisches Amt auch in eine kulturelle Klasse aufgestiegen ist. Der Abstecher in die deutsche Mythologie war aber auch ein Zeichen, zumal in einem Jahr, in dem sich die rot-grüne Regierung nicht nur zu ihrem Vergnügen mit einer Weltausstellung assoziiert sah. Die Christdemokraten zählen ihre Bastionen und müssen feststellen: Allzu viele sind es nicht mehr. Flexibilität ist die Signatur der gegenwärtigen Kultur, nicht länger die Bewahrung traditioneller Werte. Was man in den Erfahrungsschatz der Nationen aufnehmen möchte, ist im Wort von der "Zivilisation", wie es die westlichen Nachbarn verwenden, viel besser enthalten. Die "Kultur" steht auch begrifflich für einen Sonderweg, der in den "Kulturfilmen" der Nationalsozialisten einen besonders prekären Ausdruck fand: Das Handwerk, der deutsche Wald, die Nacktbaderei - alles war plötzlich Kultur, solange es nur der Eliminierung von Gesellschaft diente. Nachkriegsdeutschland hat daraus intellektuell seine Lehren gezogen und begonnen, die Kultur nicht länger inhaltlich zu verstehen, sondern als eine Form: Es ist unumgänglich, schreibt der Soziologe Dirk Baecker, "Kultur nicht etwa als Summe der Werte darzustellen, mit denen eine Gesellschaft ausgestattet ist, sondern als eine mitlaufende Beobachtung, die zu jedem Wert den möglichen Gegenwert bereithält". Das geteilte Deutschland war die politische Gestalt einer besonders dramatischen Form der Gegenwertung, nach der Wiedervereinigung ist es nun wieder das Feld der Kultur, auf dem sich die Selbstreflexion zuerst äußert. Eine deutsche Leitkultur, wie sie Merz angedeutet hat, wäre ein ausschließender Gegenwert, sie wäre also unkulturell. Umgekehrt ist der Begriff von der "multikulturellen Gesellschaft" eigentlich ein Pleonasmus, eine Verdopplung der Bestimmung von Kultur. Minimalkonsens Kein Wunder, dass auch aus dieser Richtung wieder das Grundgesetz der rettende Boden ist: Renate Künast von den deutschen Grünen sah jüngst im Verfassungspatriotismus die notwendige Ergänzung zu einer Gesellschaft mit vielen Kulturen. Sie vollzieht damit eine ähnliche Operation wie Merz: Der Minimalkonsens der Grundrechte wird außer Streit gestellt, damit auf dem Feld der Kultur (und über die Kultur) munter weitergestritten werden kann. Das ist ja auch ihre Aufgabe, schreibt Dirk Baecker: "Der moderne Kulturbegriff" relativiert alle Letztbegründungen - paradoxerweise, "indem er nicht den Vergleich betont, sondern das Unvergleichbare, nicht den Zweifel, sondern die Identität, nicht das Zufällige, sondern das Authentische". In dem am meisten verkannten deutschen Spielfilm dieses Jahres kann man das gut beobachten: Romuald Karmakar erzählt in Manila von einer Flugzeugladung voll Deutscher, die auf dem philippinischen Flughafen festsitzen. Die Zeit vergeht, die Spannung steigt, und am Ende entlädt sich die Menge in einem großen Finale, bei dem die Passagiere zur Melodie des Gefangenenchors aus Verdis Nabucco singen: "Polizeistunde kennen wir nicht." In diesen 90 Minuten verdichtet Karmakar so viele kulturelle Übertragungen, so viele deutsche Geschichten, dass man darin nur bei extremer Kurzsichtigkeit eine "Leitkultur" ausmachen könnte. Genau darin liegt die besondere Intelligenz dieses Films, der damit eine elementare Funktion der Kultur erfüllt: schneller zu sein als die Politik. Die soll weiterhin Wahlen schlagen und Gesetze beschließen. Würden sich alle an die Gesetze halten, dann müssten weder Ausländer sterben noch deren Gegentum: Deutschland. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3. 11. 2000)