André Breton sagte, dass ein Porträt unter anderem auch ein Orakel sein müsse. Das Ziel des Fotografen sei es, eine profundere Ähnlichkeit zu erreichen, die auch die Zukunft des "Subjekts" einschließt. "British subjects" sind es immer wieder auf den Fotos von Bill Brandt. Die Titel "The man who found himself alone in London, News vendors in Regent Street, London, 1 June 1940, (third day of Dunkirk)", und "What are all these children laughing at?" Worüber lacht man am 23. August 1941? Auf einem Foto lachen die Kinder, von drei Aufsichtsdamen freundlich betrachtet, glücklich. Ihre gute Laune wirkt nicht zur Schau gestellt. Ob sie anhalten wird, verrät Bill Brandt nicht, aber er scheint es ihnen zu wünschen. Bill Brandt, 1904 in Hamburg geboren, hatte Kontakte in Wien, unter anderem zu Dr. Eugenie Schwarzwald, von ihren Fans auch "unsere Frau Doktor" genannt. Sie brachte den jungen Fotografen mit Ezra Pound zusammen, der ihn wiederum zu Man Ray in Paris brachte. 1931 entschloss sich Brandt, nach England zu gehen. Theater des Kriegs Seine Fotofolgen nennt er "Theatres of war, Body and space, England, home and darkness". Es scheint, als hätte er gewusst, wie viel Dunkelheit jedes Heim einschließen kann, jeder Versuch, vier oder mehr Wände um sich zu stellen, jede Endgültigkeit. Diese vorübergehenden Endgültigkeiten hat er auch im Privatleben immerhin versucht, er heiratete mehrmals, brauchte offenbar Orte, Zustände, den festen Boden, um sich davon abzustoßen und andere Räume zu entdecken: Coalminers in armseligen Räumen, Schachspieler im Arbeiterclub, Liebschaften an Cornertables. Im "Doomed East-End", wie er es nennt, fotografiert er vorerst "not so lovely girls", auf diesem Foto hier aber eine eher schon verlassene Frau. Trübes Licht sickert herein, das Kaminfeuer ist in einem anderen Jahr oder zu einer anderen Jahreszeit ausgegangen, die Flaschen auf dem Korbtisch sind fast leer. Die Zeit ist an der Wand hinter ihr angezeigt, zwanzig vor zehn, vermutlich abends, das "home" die "darkness" der stoischen Engländer in den letzten Kriegsjahren. Auch die Frisur, nach oben gebunden von einem damals "Turkish" genannten Schal, gibt eine Datumsgrenze an. Nur die Dunkelheit lässt die Armseligkeit geringer erscheinen. Der von Feuchtigkeit verbogene Kalender ist ihre einzige Landkarte. Die Zigarette zwischen ihren Fingern ist noch nicht zu Ende geraucht, aber der Vorrat scheint zu reichen. Sie ist eher angespannt als verstört, entschlossen, zu einigem bereit. Aber wer wird sie danach fragen? Der Erstbeste, der Letztbeste? Letztes Gelächter "Wer zuletzt lacht", heißt es, aber danach sieht sie nicht aus. Sie wird vermutlich rasch auf die Karte setzen, die man ihr zugeschoben hat, nach Gelächter scheint ihr nicht zumute zu sein. Und nach letztem Gelächter? Sie wirkt unpathetisch und rasch, auch nach raschen Entschlüssen und dem, was ihnen folgt. Sie wird sich nichts sagen lassen. Bis zuletzt nicht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 03.11.2000)