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    In ihrem "Viennale-Tagebuch" und ihrem nun beginnenden "Journal des Verschwindens" entwickelt Ilse Aichinger aus den Bildern Erinnerungen und Geschichte.
Wien - "Man schaut auf vielen Fotos immer nur dem Fotografen ähnlich, nie sich selbst", meinte Ilse Aichinger einmal. Aber wie sollte auf einem Porträtfoto, das der gängigen Meinung nach eben "zeigt, wie jemand aussieht", etwas Verborgenes, ein verdecktes "Selbst", herauskommen? Wie aus einem festgehaltenen Augenblick die Geschichte - Vergangenheit wie utopische Möglichkeiten einer Person? Natürlich vollziehen AutorInnenfotos die Verwandlung des Subjekts in ein kulturell klischiertes Objekt. Wirklich bedeutenden PorträtfotografInnen aber, von August Sander bis zu Stefan Moses, gelingt es, Klischees aufzubrechen, indem sie winzige Details in den Blick rücken und ihren Figuren viel Freiheit für den Dialog mit Umgebung und Kamera lassen. Stefan Moses, in den 30er-Jahren als Theaterfotograf in Breslau ausgebildet und über Jahrzehnte hin führender Fotograf des Stern, schuf solchen Freiraum dadurch, dass er in Serien verschiedene Menschen vor identischen Hintergrund stellte, sie also nicht vorab auf Schauplätze und Bedeutung hin festlegte. In einer Serie setzte er Dichter(innen), von Ernst Jünger über Julien Green und Peter Handke bis zu Ilse Aichinger, der Landschaft von Bäumen aus. Damit brachte er zwei Systeme - Natur und Kultur - in einen Dialog, mit verblüffenden Ergebnissen: Da wirkt der nicht nur seiner Insektensammlung halber naturnahe Ernst Jünger plötzlich ganz verschüchtert, verloren zwischen Bäumen. Ilse Aichinger hingegen - "Ich hätte schon als Kind auf jede Blume spucken mögen!" - wird zu einem gebrochenen Naturwesen, taucht durch das Gestrüpp heraus auf und kehrt ins Verschwinden zurück. Bewegung zurückgeschenkt Alles ist hier Bewegung, von den Beinen über den abgewinkelten linken Arm, von den regennassen Blättern zu den Schatten im Gesicht: Geschichte, in und gegen Natur. So streifte ein blühender Holunderzweig in einer frühen Aichinger-Erzählung den Gefesselten und schenkte ihm Bewegung zurück. So, wie die Blätter auf dem Moses-Foto, fielen im Hörspiel "Besuch im Pfarrhaus" 1961 die glänzenden Kirschen in den Garten. Und wie im autobiografischen "Kleist, Moos, Fasane" 1987 vom Beerensuchen auf dem Land die Rede ist, und davon "dass die Erinnerung dem Schatten in den Milchkannen glich", so evozieren die Schattierungen auf dem Foto die Erinnerung an verfließende Zeit, Tag und Leben. Die Kinobilder, die Ilse Aichinger in den letzten Wochen für ihr STANDARD-Viennale-Tagebuch beschrieb, entwickelten sich zu Erinnerungen. Winzige Details in Filmen von Terence Davies und von Hartmut Bitomsky brachte sie in existenzielle Zusammenhänge: Kino als Atem, Bilder als Ausgangspunkt. So arbeitet auch Claude Simon mit Fotos als Generator von Erinnerung, und Roland Barthes verlangt vom guten Foto, dass es die Existenz als "Punctum" anspringt. Aichingers Nachdenken über Filme ist immer gesättigt mit solchen "Punctum"-Erlebnissen. (Richard Reichensperger, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 03.11.2000)