Der Konflikt um die Inbetriebnahme des tschechischen Atomkraftwerks Temelín erreicht zu Wochenbeginn eine kritische Phase. Ministerpräsident Milos Zeman will die eben erst aufgenommenen Gespräche mit der österreichischen Regierung abbrechen, sollten die Grenzblockaden über den Montag hinaus fortgesetzt werden. Ein Abbruch kann nicht im Sinne Österreichs sein. Ob es uns nun passt oder nicht, es ist Tatsache, dass Tschechien Temelín in Betrieb genommen hat und von diesem Weg nicht abweichen will. Nach EU-Recht ist die Entscheidung über Atomkraft eine nationale. Mit diesem Faktum müssen wir leben. Die einzige Chance, die Österreich vorerst bleibt, ist die Erreichung eines maximalen Sicherheitsstandards und die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung mit internationaler Beteiligung. Diese Forderungen werden auch von der deutschen Bundesregierung erhoben und haben somit gute Aussicht auf Verwirklichung. Zorn und Enttäuschung sind menschlich Der Zorn, die Wut und Enttäuschung speziell der Mühlviertler über die Inbetriebnahme Temelíns ist zwar menschlich verständlich, doch diese Emotionen in Form der Verlängerung der Grenzblockaden weiterzuführen ist politisch unvernünftig. In dieser Situation helfen primär Gespräche auf Regierungsebene. Nur so kann Österreich Tschechien Zugeständnisse abringen. Dass dies ein durchaus effektiver Weg ist, belegt die Kritik des tschechischen Oppositionsführers Václav Klaus. Er hält Zeman vor, beim Treffen mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel einer Überprüfung der Sicherheit durch die EU-Kommission zugestimmt zu haben. Denn damit sei ein bilaterales Problem zwischen den beiden Nachbarländern auf die europäische Ebene gehoben worden, argumentiert Klaus. Die Grenzblockaden, die ursprünglich als Akt der Notwehr in der Öffentlichkeit durchaus akzeptiert wurden, geraten nun auch innerösterreichisch in die Kritik. Denn der Adressat, die tschechische Atomlobby, wird nur zum Teil getroffen. Leidtragende sind vor allem Reisende und der Wirtschaftsverkehr. Die heimischen Frächter verweisen auf die Rechtsstaatlichkeit und fordern, das Problem anders zu lösen, als sich einfach auf die Straße zu setzen. Blockkade ergibt wenig Sinn Tatsächlich ergibt eine Dauerblockade wenig Sinn. Sie schadet Österreichs Interessen mehr, als sie nutzt, und führt in eine Sackgasse. Auf der tschechischen Seite verursacht sie eine Verhärtung der Position, was das noch Mögliche gefährdet. Es gibt auch andere Formen des Protests, die unbedingt genutzt werden sollten. Wie so oft, geht es hier nicht nur um das Was, sondern ganz wesentlich um das Wie. Antiatompolitik kann sich langfristig nicht durch Blockieren durchsetzen, sondern nur durch Überzeugen. Die Gegner von Temelín haben in ihrer Kritik Recht. Wie es der deutsche Umweltminister Jürgen Trittin formulierte: "Temelín ist unrentabel und würde in Deutschland keine Betriebsgenehmigung erhalten." Berechtigt ist die Kritik in tschechischen Medien an jenen österreichischen Politikern, die die Menschen zur Meinung verleiten, Temelín könne durch die Blockaden verhindert werden. Das ist eine Illusion und hat möglicherweise den wahltaktischen Hintergrund, aufgrund eines harten Auftretens möglichst viele Stimmen aus dem Protestpotenzial für sich zu lukrieren. Das ist Verführung und Missbrauch ehrlichen Engagements. Ein politischer Fehlschlag ist die FPÖ-Forderung der Verknüpfung des EU-Beitritts mit der Abschaltung des Atomkraftwerks. Das wäre die Fortsetzung des diplomatischen Kriegs anstelle des notwendigen Dialogs. Das Leben muss trotz der Belastung Temelín weitergehen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 ist der bevorstehende EU-Beitritt Tschechiens der zweite große Schritt, die 45-jährige Eiszeit und den Stillstand der bilateralen Beziehungen zu überwinden und den langen österreichisch-tschechischen Grenzraum mit Leben in all seinen vielfältigen Facetten zu erfüllen. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 4./5. 11. 2000)