Rot für Bush, Blau für Gore
Eine Phrase, die man an diesem Morgen noch öfter zu hören bekommen wird, macht zum ersten Mal die Runde: „Too close to call“, so heißt das Gebot der Stunde im Kampf um das mächtigste Amt der Welt. Die Zeit drängt, der User duldet keine News, die schon eine Stunde alt, sprich von vorgestern, sind. Er will Klarheit, Information, Aufklärung und das schnell. Schließlich könnte er ja sonst gleich fernschauen, oder, noch schlimmer, auf die Zeitung von morgen warten. Also raus mit den alten Hadern und rein mit den neuesten Exit-Polls von West Virginia. Die heutigen Nachrichtenticker tickern nicht mehr, sie erscheinen, sekündlich „upgedatet“, lautlos auf dem Bildschirm. Die Bundestaaten müssen eingefärbt werden, die amerikanische Landkarte, zu Mitternacht noch schneeweiß, wird langsam aber sicher bunter. Rot steht für Bush, blau für Gore. Erledigt, jetzt nur noch der Vergleich, der sicher machen soll. Doch die alles entscheidende Frage – Was hat CNN? - bringt mehr Verwirrung als Erleichterung. Rhode Island, seit der Ewigkeit einer Viertelstunde von diversen Nachrichtendiensten dem Lager Gores zugerechnet, trägt die Farbe von Bush. Ein Fehler? Der dreifache Re-Check bringt es an den Tag: Nicht wir, CNN hat Mist gebaut. Zum Jubeln bleibt keine Zeit, schließlich steht die Entscheidung in Kalifornien, dem Staat mit den meisten Wahlmännern, an. Binnen einer halben Minute herrscht Klarheit: der äußerste westliche Rand Amerikas ist blau. Die anschließende Atempause wird genutzt, um die in unregelmäßigen Abständen per Email hereinschneienden Korrespondentenberichte zu bearbeiten.
"Der wahre Krimi ist längst vorbei"
Während draußen schon der Morgen dämmert, macht sich innerhalb der Redaktion eine neue, alte Erkenntnis breit: An Gott kommt immerhin Toni Polster vorbei, am User keiner. Das Fenster mit den Diskussionsforen läuft seit Arbeitsbeginn auf Autopilot, alle paar Minuten streift der nervöse Blick routinemäßig den unteren rechten Bildschirmrand. Die Zugriffszahlen zeigen eine Steigerung um ein Drittel an, aber es ist klar, dass diese User auf Dauer nicht gehalten werden können, wenn die Aktualität nicht stimmt. Leise Panik kommt auf, bange Fragen stellen sich: Sind wir aktuell? Gibt es Beschwerden? Sind die User mit irgendwas, und sei es auch nur ein Detail, unzufrieden? Beim näheren Durchgehen der Postings erweist sich die latente Furcht schnell als unbegründet .Aus der ganzen Welt trudeln Glückwünsche ein, wie jener aus dem „battleground state“ Nummer Eins, Florida: „Gratuliere euch zur prompten Berichterstattung. Hier ist es gerade drei Uhr morgens, die Analysen von Fox, CNN und ABC sind noch brühwarm und holprig und derStandard.at hat schon vor 20 Minuten alles parat gehabt!“ schreibt da einer. Das spornt an, das macht Mut. Auch wenn die Kollegen vom Sport, die schon vor Stunden nach Hause gegangen sind, immer noch das Gros an Userlob abbekommen: “Wegen der US-Wahl bis sechs Uhr wachbleiben? Der wahre Krimi war doch schon um 23.00 vorbei! Sturm ist in der Champions League weitergekommen!“
Alles offen, alles... offen
Als das Frühstück serviert wird, herrscht noch immer allgemeine Ratlosigkeit, was den Ausgang der Wahl betrifft: Das Fernsehen hat Bush um acht Uhr zum nächsten Präsidenten der USA ausgerufen, aber die User wissen es besser. Die Landkarte ist mittlerweile ganz in blau und rot getaucht, nur Florida und das mittlerweile bedeutungslos gewordene Oregon sind weiterhin offen.