Graz - Seltsam: Dass eine widerspenstige Zeitschrift wie die manuskripte 40 Jahre alt wird, trotz Österreich. Tatsächlich lässt sich Graz ab 1960 als Miniaturmodell der Probleme Österreichs sehen; die manuskripte als Aufstand gegen eine Modernefeindlichkeit, die nicht nur mit deren Verdammung durch die Nazis zu tun hat. Als sich um 1960 - wie ein gutes Jahrzehnt zuvor in Wien um den "Artclub" - in Graz eine Vereinigung progressiver Künstler formierte, da stritt der Lehrer Alfred Kolleritsch mit den Malern und Architekten: Unbedingt brauche man eine literarische Zeitschrift, denn in der Sprache sei die Ideologie am tiefsten abgelagert: "wer noch von ewigen werten, von unumstößlichen wahrheiten und formen spricht, der lügt", verkünden manuskripte 4/1962. "Kunst ist Erkenntnis", hatte schon das zweite Heft 1960 postuliert und führte gleich die Praxis vor: Bayer, Achleitner, Artmann, Rühm - erstmals konnte die "Wiener Gruppe" in einer heimischen Zeitschrift veröffentlichen. Damit zeigten die manuskripte von Beginn an, was Denken verformt und was Literatur im Sichtbarmachen der Muster bewusst macht: Klischees, ideologische Sätze, Befehlssätze. Dazu stellte die Zeitschrift die internationalen Vernetzungen der Moderne her: die Gruppe der brasilianischen "Noigandres", tschechische Konkretisten, Dadaist Raoul Hausmann. Höhepunkt: die Veröffentlichung (1965-1968) des Zentralwerks der österreichischen Literatur nach 1945, Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa. roman. - Ein Pornographieprozess dagegen brachte die Zeitschrift, durch Subventionsentzug, an den Rand des Ruins. Eigentlich darf man über die manuskripte nicht sprechen, ohne eigene Erfahrungen einzuweben, denn deren Literaturverständnis ist existenziell: ein Befreiungserlebnis etwa, als 1978 die ersten Seiten Josef Winklers in den manuskripten zu lesen waren, ein bohrender und völlig neuer Tonfall, Blut, Gewalt, Sexualität. Oder einige Jahre danach Gedichte Andrea Zanzottos, in die Zeitschrift gelangt über Peter Waterhouse. Und überhaupt: Man hat Alfred Kolleritsch, dem Hauptlektor, öfters "einseitigen" Geschmack vorgeworfen - aber es ist ein strenger, kein enger Geschmack, der immer Gegenpositionen, etwa Michael Scharangs, einbezog. Allerdings ist es auch gut, dass sich neue Zeitschriften bildeten. Dialoge und Kreise Rückblende: Graz - zu lange verdeckt von Wien. Das lässt übersehen, wie kulturelle Entwicklungen in Städten ähnlich verlaufen, nämlich im Dialog, in Kreisen. So hing das "Forum" zusammen mit dem Kreis der Volkshochschule, wo der Philosoph Georg Jánoska Wittgenstein und Fritz Mauthner propagierte. Faszinierend, wie dies in leidenschaftlichen Aufsätzen der Grazer Jusstudent Peter Handke aufnahm, der 1963 in den manuskripten debütierte. Plötzlich (mit Hornissen ) war auch US-Gegenwartsliteratur, primär William Faulkner, präsent. Und immer neue Form-Experimente, um die "Wirklichkeit" zu erweitern: Jonke, Jelinek, Bauer, und andere mehr. An den manuskripten ist so schön, dass man lesend das Gefühl hat, die Texte kämen aus lesendem Austausch. Das Lesen anderer lesend, verläuft sich so die Einsamkeit in einem lesefeindlichen Land. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12. 11. 2000)