Die aktuelle Auseinandersetzung um eine Äußerung des Bundeskanzlers zur Rolle Österreichs nach 1945 lässt mich zunächst auf das Arbeitsprogramm der Historikerkommission hinweisen. Dort heißt es:

"Im Sinne der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 war die Zweite Republik, nach ihrem juristischen und politischen Selbstverständnis ein von Deutschland besetzter, nunmehr als demokratische Republik wieder errichteter Staat.

Andererseits kam in der Moskauer Erklärung über Österreich vom 1. November 1943 durch die Erinnerung an eine österreichische Mitverantwortung für den Krieg sowie durch die Aufforderung zum Widerstand eine Ambivalenz zum Ausdruck, die im Verhalten der österreichischen Bevölkerung im Nationalsozialismus begründet lag. Trotz Taten des österreichischen Widerstands wurde diese Ambivalenz bis Kriegsende nicht (ganz) beseitigt und fand auch in den Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen der Zweiten Republik ihren Ausdruck."

Wenn die wieder erstandene Republik Österreich ihre Rolle als "Opfer" des nazionalsozialistischen Deutschlands betonte, so war dies meines Erachtens sowohl völkerrechtlich korrekt als auch außenpolitisch sinnvoll. Man kann auch nicht sagen, dass diese Haltung deshalb eingenommen wurde, um Österreich vor Restitutionsforderungen zu schützen.

Freilich erwies sich die "Opferthese" sehr bald als höchst geeignet, derartige Ansprüche so weit als möglich abzuwehren. Darin lag ein bedenklicher Fehler, denn der Schluss von der juristischen Konstruktion auf die moralisch-politische Seite war und ist unzulässig.

Wenn heute die Rede von Österreich als einem "Opfer" des Nationalsozialismus so anstößig wirkt, so deshalb, weil es für viele Menschen nicht nachvollziehbar ist, dass ein Staat "Opfer" sein kann. Opfer waren jene Menschen, die nach dem 13. März 1938 unter den - von einem großen Teil der einheimischen Bevölkerung begrüßten oder gar begangenen - Verbrechen litten. In einem alltagssprachlichen Verständnis kann vielleicht nur ein Mensch, nicht aber eine Institution Opfer sein.

Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich auch viele Österreicher und Österreicherinnen zu Opfern wurden. Auch die Juden und Roma, die Sozialisten und Monarchisten waren Österreicher.

Von der extremen Rechten wurde die "Opferthese" im Übrigen wohl kaum je vertreten, ihrem Verständnis entsprach - und entspricht wohl auch heute - eher, den Kampf gegen Juden, Bolschewisten und andere Gruppen als einen gemeinsamen Kampf der "Anständigen" zu sehen. Dass man diesen Kampf verloren hat und daher eine von den "Siegermächten" diktierte Einstellung übernehmen musste, führt in diesem Denkschema dazu, dass man heute an mächtige Opfergruppen bezahlen muss.

Mir persönlich ist die in der "Opferthese" zum Ausdruck kommende Widersprüchlichkeit und Unschärfe daher allemal lieber als die hier nur angedeutete These der äußersten Rechten, die im Untergrund weiter wirkt.

Frage der Sensibilität

1991 bekannte sich der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky vor dem Nationalrat und später 1993 in einer Rede an der Hebräischen Universität in Jerusalem zur österreichischen Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialimsus und deren Nachkommen und relativierte somit die österreichische "Opferthese", im November 1994 folgte dem Bundespräsident Thomas Klestil.

Meines Erachtens ist es notwendig, diese Linie auch weiterhin und mit der ganzen sprachlichen Sensibilität zu vertreten, die überhaupt aufzubringen ist.

Die Opferthese kann kein Argument in der Auseinandersetzung mit Opfergruppen sein. Heute haben sich die Akzente verschoben: Nicht mehr auf der Betonung der juristisch-außenpolitischen Linie kann der Schwerpunkt liegen, sondern auf der moralischen Verantwortung.

Ich denke, dass der Bundeskanzler diesen Weg weitergehen will.

Clemens Jabloner ist Präsident des Verwaltungsgerichtshofes und Vorsitzender der Historikerkommission.