Eugen Freund

Alle vier Jahre erleben die USA das gleiche Spiel: Am Tag nach der Wahl gibt es zumindest eine ganzformatige Anzeige in den großen Tageszeitungen des Landes, in der sich eine ganz bestimmte amerikanische Fernsehanstalt dafür rühmt, die Erste gewesen zu sein, die den Sieg von Präsident X verkündet hat.

Diesmal suchte man vergeblich nach dem Bild von Dan Rather, Peter Jennings, Tom Brokaw oder Bernard Shaw. Jetzt weiß man auch warum. Denn noch immer kennt niemand den Gewinner der amerikanischen Präsidentschaftswahlen - aber wenigstens die Verlierer stehen schon fest: Es sind die kommerziellen amerikanischen Fernsehanstalten.

In ihrem Bedürfnis, die Schnellsten sein zu wollen, jedenfalls schneller als die Konkurrenz, haben sie einen anderen Anspruch völlig aufgegeben: nämlich die Wahrheit oder wenigstens Tatsachen zu verbreiten. Sechs TV-Sender haben in der Wahlnacht "live" über den Ausgang berichtet, und alle haben sich der gleichen Basisdaten bedient: Exit-Polls, also Umfragen unter Wählern, die schon abgestimmt haben, kleinere echte Bezirksergebnisse und natürlich Vergleichsdaten.

Im Fall von Florida lagen sie falsch: Sie verkündeten Gore zum Sieger und schafften damit ein Klima, das möglicherweise dem Vizepräsidenten den Sieg gekostet hat. Zu diesem Zeitpunkt - und das war ein erstes kapitales Vergehen der TV-Netze - waren die Wahllokale in einem Teil dieses südlichen Bundesstaates noch geöffnet - sie liegen nämlich im Westen, in einer anderen Zeitzone, in der noch länger gewählt werden durfte: Man kann sich vorstellen, was in den Köpfen möglicher Gore-Wähler vorgegangen ist, die eigentlich zur Wahl gehen wollten, aber es dann nicht mehr für notwendig erachtet haben, nachdem Gore zum Sieger erklärt wurde.

Glaubwürdige Selbstkritik?

Der nächste Fehler passierte rund sechs Stunden später: Um 2 Uhr 20 trompetet Peter Jennings von ABC den Sieger heraus. Diesmal wird George W. Bush zum Präsidenten erklärt, obwohl ein kleiner, aber entscheidender Prozentsatz an Stimmen im Bundesstaat Florida noch immer nicht ausgezählt ist - wie die Lemminge folgen jeweils eine Minute später dann die anderen Fernsehgesellschaften mit der gleichen Meldung (auf die auch wir ausländischen Berichterstatter in Washington angewiesen sind, schließlich sind wir sonst immer gut bedient worden . . .).

Auch wenn die Spannung über den Wahlausgang und die Unregelmäßigkeiten in Florida diese Diskussion einigermaßen überdecken (und wer kann von den Fernsehanstalten auch erwarten, dass sie ihre eigenen Unzukömmlichkeiten zum Hauptthema machen), so sind schon kritische Stimmen zu hören - zum Teil von den Tätern selbst: Dan Rather, der Anchorman von CBS, nahm sich kein Blatt vor den Mund und sagte in die Kamera: "Wenn Sie über uns empört sind, so kann ich Ihnen nur Recht geben." Und Tom Brokaw von NBC sprach davon, nicht nur Eier in sein Gesicht geschmissen zu bekommen, sondern ein ganzes Omelett.

In der Vergangenheit ist jeder Versuch, die Fernsehgesellschaften von ihren voreiligen Voraussagen abzubringen, abgeschmettert worden. "Was wir wissen, wollen wir auch unseren Sehern mitteilen", lautete das Argument. Nun beginnt aber doch ein Nachdenkprozess.

Wenn beim nächsten Mal "der Finger juckt", wie sich Daryl Kagan von CNN am Donnerstag ausdrückte, werden sie der Versuchung widerstehen, die entsprechende "Sieger"-Taste zu drücken. Oder erwartet man sich mit einem solchen Anspruch doch zu viel von den konkurrenzierenden, kommerziellen TV-Anstalten in den USA ?

Eugen Freund ist ORF-Korrespondent in Washington.