Paris - Wenn sogar der Pariser Dreisternkoch Alain Ducasse seinen Gästen kein französisches Rindfleisch mehr auftischt, kann etwas nicht mehr stimmen im Land der Gourmets. Die französischen Medien diagnostizieren eine regelrechte "Psychose", schimpfen Fleischhauer und Viehzüchter über deren "negative Stimmungsmache". Den Franzosen ist der Appetit auf Rindfleisch schlagartig vergangen. Im Frischmarkt Rungis, der die zehn Millionen Bewohner des Großraums Paris versorgt, wurden 40 Prozent weniger "boeuf" gehandelt, was laut Guy Eschalier, dem Präsidenten der Fleischgrossisten in Rungis, noch nie da gewesen ist. Täglich setzen weitere Schulkantinen und Kindergärten Rindfleisch von den Menükarten ab. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber viele der 450 Schlachthöfe Frankreichs, die im Schnitt Einbußen von 50 Prozent erleiden, führten bereits Kurzarbeit ein. Nicht minder gravierend sind die Meldungen aus dem Ausland: Nachdem osteuropäische Länder wie Polen bereits ein französisches Rindfleischembargo erlassen hatten, erließ nun auch Spanien als erster EU-Staat einen gleichlautenden Entscheid gegen französische und irische Zuchtrinder. Der Damm ist damit gebrochen, nachdem Paris mit allen Mitteln versucht hatte, EU-intern verschont zu bleiben. Bestellungen massiv gedrosselt Von den 1,4 Mio. Tonnen Rindfleisch, die Frankreich jährlich produziert, werden fast 20 Prozent exportiert. Starke Abnehmerländer wie Italien und Griechenland drosseln jedoch massiv Bestellungen; auch Deutschland importiere faktisch keine Markenrinder mehr. Das Schlimmste aber: Rational ist kaum erklärbar, warum die Franzosen plötzlich keinen "boeuf" mehr essen. Der EU-Kommissar für Konsumentenschutz, David Byrne, und die Verbraucherschutzagentur Afssa betonten in der Vorwoche, die Gefahr der Ansteckung mit der Rinderseuche seien "nach wie vor extrem schwach". Zwar werden in Frankreich fast täglich neue BSE-Fälle gemeldet; der Zähler steht seit Jahresanfang bei 94 BSE-Diagnosen. Doch das ist ein Bruchteil englischer Ziffern; und die Herden in Frankreich werden sofort notgeschlachtet. Verschiedene Supermarktketten, darunter der französische Branchenriese Carrefour, mussten kürzlich eine eigentliche "Rückrufaktion" lancieren, nachdem zufällig bekannt worden war, dass mehrere Tonnen Rindfleisch einer BSE-verseuchten Herde der Normandie in den Handel gekommen war. Diese Vorgänge und Berichte über ungenügende Kontrollen genügten, dass die Franzosen den offiziellen Beteuerungen nicht mehr glauben. Die Pariser Behörden, die zwischen Konsumenten- und Fleischerinteressen lavieren, haben die Gefahr einer Massenpsychose verkannt. Landwirtschaftsminister Jean Glavany zögert deshalb weiterhin, einschneidende - und teure - Maßnahmen zu ergreifen. Der Bauernverband FNSEA verlangt die Notschlachtung einer Million Rinder, die vor der Einführung strikter Gegenmaßnahmen Mitte 1996 geboren sind. Doch dagegen machen jene Viehzüchter mobil, die ihre Nutztiere gar nie mit Tiermehl gefüttert hatten. Sie garantieren BSE-freies Fleisch. Glavany hat sich nun ebenfalls gegen die Notschlachtung älterer Rinder ausgesprochen; allein deren Kosten beziffert Glavany auf zwölf bis 18 Mrd. Francs. Dazu kämen zwei Mrd. Francs, die die Verbrennung von Tiermehl kostet. Ein Ausweg aus dem Teufelskreis ist nicht in Sicht, weil es Ländern wie Frankreich aufgrund von Handelsvereinbarungen mit den USA praktisch unmöglich ist, mehr proteinhältige Futterpflanzen wie Soja auszusäen. (Stefan Brändle, D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 13. 11. 2000)