Wenn der Bundeskanzler der Wenderegierung Österreich wieder einmal als das erste Opfer Nazideutschlands bezeichnet, regen sich die notorischen Gutmenschen reihenweise auf. Wenn Hans Dichand in der "Kronen Zeitung" die Pflicht des Augenzeugen freudig erfüllt und am Beispiel seiner Heimat-"Stadt der Volkserhebung" Graz ausführt, wie dort im November 1938 für ihn deutlich hörbar mit den Zähnen geknirscht wurde, als in der sogenannten "Kristallnacht" auch den Juden ein kleines Opfer abverlangt wurde, dann sagen die Gutmenschen kein Wort. Sie wollen einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass die überwältigende Mehrheit der Grazer bereits wenige Monate nach dem Einmarsch im Widerstand war und keinen Pardon mit den Nazis kannte, wenn es um ihre Juden ging. Das hilft ihnen aber nichts, denn Dichand hat es, aus 62 Jahre später gegebenem Anlass, selbst gesehen.

Wenn jetzt an dieser Stelle ein neuer jüdischer Tempel feierlich übergeben wurde, so halte ich es für meine Pflicht als Augenzeuge, genauso zu berichten, wie ich es damals erlebt habe, durfte man Samstag am zeitgeschichtlichen Unterricht des "Krone"-Chefs teilnehmen. Den Blick für das Wesentliche hatte er schon im Jahre 1938. Er sah etwa zwanzig Jahre vor Gründung der "Krone" voraus, was einmal als Blattlinie benötigt würde: Von allen Seiten strömten die Grazer zu der brennenden Synagoge und hielten mit ihrer Empörung über diesen Gewaltakt nicht zurück. Zwar hatte die SA alles abgesperrt, aber die Demonstranten spuckten in Richtung SA-Männer und beschimpften sie lautstark. Die Vorsichtigeren sammelten sich gegenüber, am anderen Murufer, im Augarten und schrieen ihre Abscheu herüber.

Die anständigen und fleißigen SA-Männer, die ja auch nur ihre Pflicht erfüllten, tun einem noch im Nachhinein leid. Ihre Uniformen von Grazer Spucke bekleckert, ihre menschliche Würde von Mur-übertönenden Abscheurufen zerstört - wer leistet denen heute eigentlich Wiedergutmachung? Dabei haben sie doch nur alles abgesperrt, damit sich kein Grazer Jude die Finger verbrennt. Dichands Blick für das Wesentliche basiert prinzipiell auf selektiver Wahrnehmung. Er sah zwar die brennende Synagoge, die absperrenden SA-Männer und die empörten Grazer - nur wer eigentlich gezündelt und zerstört hat, das blieb ihm damals völlig verborgen und interessiert ihn auch heute nicht. Aber bitte - auch der Führer hat nicht alles gewusst.

Vielleicht waren es die Russen. Grazer wohl kaum, denn: Zwar hatte es erst ein paar Monate zuvor eine große Mehrheit für den Anschluss an Hitler-Deutschland gegeben, genauso sicher bin ich jedoch, dass die überwältigende Mehrheit der Grazer gegen diese unfassbaren Pogrome war. Ein Blick für die wunderbare Wandlungsfähigkeit der österreichischen Seele in nur acht Monaten ist für den Augenzeugen Dichand kein Problem, aber wie soll man auch noch ein Auge für Synagogenstürmer haben, wenn Volkserhebung und Volksempörung derart ineinander übergehen?

Seither jedenfalls ging es mit den Nazis bergab. Die Folgen der "Kristallnacht" waren nicht nur in Graz für das Regime äußerst negativ. Bei sehr vielen Menschen erwachte das Gefühl, einer fremden, unheimlichen Macht ausgeliefert zu sein. Etwa so muss sich Jahrzehnte später Steirer Schmid in der Wiener Infrastruktur gefühlt haben. Nur waren die Batterien des Regimes nicht so rasch leer. Noch lange bewirkte die Anschluss-Begeisterung der Märztage 1938, dass die aufkeimende Erkenntnis, einer verbrecherischen Clique preisgegeben zu sein, unterdrückt werden konnte. Bei manchen bis heute, bei anderen keimt entweder noch immer nichts, oder wenn doch, dann Begeisterung für die Politik, die den SA-Männern eine ordentliche Beschäftigung sicherte.

Mit dem Aufkeimen tut sich die Erkenntnis in Dichands Geschichtsklitterungen immer schwer. Nur dort scheint es plausibel, dass die Erkenntnis, einer verbrecherischen Clique preisgegeben zu sein, von einer acht Monate zuvor stattgehabten Anschluss-Begeisterung ohne weiteres unterdrückt werden konnte, selbst wenn man nur Grazer und nicht auch ein wenig Nazi war: Die Leser-Blatt-Bindung erfordert den nazibegeisterten Antifaschisten. In diesem Wesen stößt sich die Erkenntnis einer verbrecherischen Clique nicht einmal daran, dass deren Blitzsiege die Menschen immer wieder in einen Taumel der Begeisterung über die Erfolge auf den Schlachtfeldern rissen. Das müssen die Juden verstehen. Günter Traxler