Geschlechterpolitik
Gemeinsame Obsorge: ExpertInnen uneins
Das Hearing machte divergente Positionen deutlich
Wien - Anstatt mit dem Regierungsvorhaben die gemeinsame Obsorge beider Eltern nach der Scheidung einzuführen, wären
Maßnahmen zum Schutz der Kinder vor den Konflikten ihrer Eltern wünschenswert. Das erklärte Univ.Prof. Ernst Berger, Neurologische
Klinik in Wien, beim ExpertInnenhearing zum Kindschaftsrechtsänderungsgesetz, das am Mittwochnachmittag im Parlament fortgesetzt wurde.
"Im klinischen Alltag beobachten wir, wie schwierig es für Kinder ist, wenn sich Elternteile nicht einigen können. Ein 15-jähriger Knabe hat
unmittelbar nach dem Streit seiner geschiedenen Eltern im Spital einen Selbstmordversuch unternommen", erläuterte der Neurologe. Für
Berger steht fest: Keine Änderung der derzeitigen Rechtssituation. "Wenn gemeinsame Obsorge, dann auf Antrag, sofern Vereinbarungen
über die wichtigsten Lebensbereiche vorliegen", fordert Berger.
"Wenn es zum Crash kommt..."
Ganz anders stellt sich die Situation für die Vizepräsidentin der Wiener Rechtsanwaltskammer, Brigitte Birnbaum, dar. Sie ortet eine neue
Vätergeneration, die sich verstärkt um die Kinderbetreuung kümmert. "Eltern haben den Wunsch nach gemeinsamer Obsorge. "Ich sehe
keinen Grund, dagegen zu sein. Wenn es zum Crash kommt, müssen neue Regelungen getroffen werden", stellte die Anwältin fest.
Für Robert Fucik, Vereinigung der Österreichischen RichterInnen, müsse der Grundsatz, Familienautonomie geht vor staatlichen Eingriff, gelten.
"Der Staat entzieht heute von Amts wegen dem weggezogenen Elternteil die Obsorge." Das geltende Gesetz und die gesellschaftlichen
Bedürfnisse stimmten, so Fucik, nicht mehr überein. Die ausnahmslose Ablehnung der gemeinsamen Obsorge stoße darum auf Unverständnis.
Der Richter erklärt sich die Angst vor der gemeinsamen Obsorge mit der Befürchtung, dass alleinerziehende Elternteile dadurch zu wenig
Anerkennung bekommen könnten. Vom Familienrecht könnten sich Alleinerzieher nicht allzu viel zu erwarten.
Jetzige Rechtslage klarer
Ein klares Plädoyer gegen das Regierungsvorhaben brachte die Verfassungsrechtlerin Brigitte Hornyik vor. Im Gegensatz zur deutschen
Rechtslage, die die gemeinsame Sorge schon während der Ehe vorsieht, gilt in Österreich grundsätzlich die alleinige Vertretung des Kindes
durch jeden Elternteil. Darum, so folgerte die Juristin, könne es nach erfolgter Scheidung keine gemeinsame Obsorge geben. Im Sinne der
Kinder wäre aber die jetzige Rechtslage klarer. "Selbstverständlich brauchen Kinder Mama und Papa. Aber es sollte nicht um Recht und
Macht gehen", appellierte Hornyik. "Väter, brauchen Sie wirklich einen Gerichtsbeschluss, um sich für ihre Kinder zuständig zu fühlen?, fragte
Hornyik. Getrennt leben, aber vereint Kinder zu erziehen, sei für sie in der Praxis nur schwer vorstellbar. "Frauen und Kinder sind in der
Regel eine wirtschaftliche Einheit. Die Drohung, dann zahle ich eben keinen Unterhalt mehr, wird in der Regel Frauen härter treffen als
Männer", stellte Hornyik fest.
Nach der Wiener Anwältin Helene Klaar gibt es kein Bedürfnis nach einer Änderung der gültigen Rechtslage. Sie befürchtet auch, dass
Mütter zu allen finanziellen Konzessionen bereit sein werden, wenn dafür der Vater auf die Obsorge verzichtet. (APA)