Wie immer das Wahl-Kartenspiel in Florida in knapp 24 Stunden auch ausgehen mag: Grundidee der US-amerikanischen Verfassung ist es, die Bürger vor einer tyrannischen Machtkonzentration zu schützen. Deshalb wurde ein System geschaffen, das die Einzelstaaten in die Wahl des Präsidenten mit einbezieht, und das wollen auch die Bürger. Sie nehmen unterschiedliche Stimmverfahren in Kauf und akzeptieren, dass durch das Wahlsystem auch jemand Präsident werden kann, der bei der Volkswahl nur Zweiter geworden ist. Wenn Bush in Florida gewinnt, hat Gore verloren. Punktum.
Frage der Kontrolle
Das Verhältniswahlrecht ist aus US-Sicht unlogisch. So lautet die Meinung der Mehrheit, und Gore wird das als (möglicher) Verlierer (leider) akzeptieren müssen. Dass manche Tücken im Detail stecken, weil Florida eine Wahl schlecht organisiert hat oder weil das Wahlrecht für die Stimmenzählung mehrere Interpretationen zulässt, spielt da nur eine untergeordnete Rolle.
Viel gefährlicher ist, dass es in Demokratien eine Tyrannei der Mehrheit geben kann. Die Republikanische Partei hätte es im Fall des Falles (Bush-Sieg) geschafft, sowohl in den Präsidentschaftswahlen als auch im Kongress eine hauchdünne Mehrheit zu erringen, und verfügte damit, obwohl es keine mit Österreich vergleichbare Parteidisziplin gibt, über das Potenzial, ihre Vorstellungen von Politik auch umzusetzen.
Viele US-Amerikaner fürchten eine derartige Konzentration der Macht in den Händen einer Partei. Daher ist der andere Fall des Falles besser: wenn Gore als demokratischer Präsident mit einer Kongressmehrheit der Republikaner konfrontiert wird. Im Fall einer wechselseitigen Blockade der Institutionen mag das US-System zwar wenig effizient erscheinen. Doch Effizienz im klassischen Verständnis war für die Verfassungsgründer kein Kriterium, sondern wurde dem Primat der wechselseitigen Kontrolle ("checks and balances") untergeordnet, um so die Machtfülle einer Partei zu verhindern.
Aus österreichischer Sicht neigen wir dazu, "Die spinnen, die Amerikaner!" zu sagen. Aber was ist, nüchtern gesehen, wirklich passiert? Es gab eine Wahl, und es waren Nachzählungen erforderlich. Das ist nichts, worauf ein Land stolz sein kann. Doch sollte für uns Österreicher die Erinnerung an das Auszählen der Innsbrucker Stimmen nach den Tiroler Landtagswahlen genügen, um sich jedweden Spottes zu enthalten.
Jedenfalls sind weder veraltete Abstimmungsmaschinen noch unübersichtliche Stimmzettel das Ende der Demokratie im Sinne der US-Verfassung. Die Verfassungsgründer würden über solche hysterischen Übertreibungen nur milde lächeln. Das Dilemma liegt nicht im Wahlsystem begründet, sondern ist die Konsequenz gesellschaftlicher Veränderungen wie die Entwicklung einer Teledemokratie sowie eines Rechtsverständnisses, das sich in einer regelrechten Klagswut manifestiert.
Inszenierte Dramatik
Wenn die endgültige Wahl des Präsidenten nicht von einer Prozesswelle begleitet wird, kann man jedenfalls mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass allein die verspätete Bekanntgabe des Wahlsiegers noch keine Verfassungskrise auslösen wird.
Und wenn die diversen Fernsehsender Bush und Gore nicht wechselweise zum Sieger erklärt und jedes Zwischenergebnis der Nachzählung zur Staatsaffäre gemacht hätten - dann wäre bereits jetzt die Situation nur halb so dramatisch, wie sie für manche Beobachter aussieht.
Doch nach vielen schlaflosen CNN-Fernsehnächten kann von uns in Österreich nicht verlangt werden, dass wir verstehen, warum der Sieger Bush oder Gore heißt. Bis zu den Hintergründen der US-Verfassung dringen wir nicht vor. Das Ende der amerikanischen Demokratie zu verkünden ist populärer und weniger kompliziert.
Peter Filzmaier ist Politikwissenschafter an der Uni Innsbruck; Charles Tampio ist Vizepräsident der Close-up Foundation für Politische Bildung in Washington D.C. (und überzeugter Gore-Anhänger).