"Der souveräne Staat Österreich war buchstäblich das erste Opfer des Nazi-Regimes. Sie nahmen Österreich mit Gewalt". Mit diesen Worten skizzierte Bundeskanzler Schüssel am 9. November 2000 gegenüber der Jerusalem Post das Geschichtsbild dieser Regierung. In einer Reaktion auf diese am Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 bekannt gewordene Geschichtsdeutung des Bundeskanzlers warf ich Wolfgang Schüssel einen "unfassbaren Rückschritt in der Aufarbeitung der Geschichte Österreichs" vor, der "nicht nur hinter die historische Erklärung Vranitzkys zurückfällt, sondern auch in krassem Widerspruch zur Regierungspräambel steht".

Es war sehr österreichisch, wie STANDARD-Redakteur Michael Fleischhacker am 10. November Wolfgang Schüssels Interview und meine Reaktion darauf kommentierte: Der Eindruck, dass historische Sachverhalte erst geklärt werden müssten sei "grotesk", meinte der Kommentator. Es handle sich - "wenigstens bei den aktuellen Diskutanten - um Allgemeingut: Wolfgang Schüssel weiß das, Alexander Van der Bellen weiß das, und Van der Bellen weiß natürlich, dass es Schüssel weiß. Warum also der ganze Wirbel?"

"Österreichisch"

Das besonders "Österreichische" an diesem Kommentar ist die Tatsache, dass Michael Fleischhacker es mit seiner Flucht in die antike Janus-Mythologie verabsäumte, genau zu benennen, was denn eigentlich Allgemeingut zu sein hätte. Er lässt zwei Denkansätze zur Machtübernahme des Nationalsozialismus in Österreich quasi gleichberechtigt nebeneinander stehen: Den verfassungsrechtlichen, dass "der souveräne Staat Österreich" erstes Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, neben jenem, der das Verhalten der BewohnerInnen dieses Staates bei der Bewertung der österreichischen Geschichte von 1938 bis 1945 in den Vordergrund stellt.

Zweifellos habe ich mir nicht den Anspruch auf die historische Wahrheit anzumaßen. Aber Fragen werde ich doch stellen dürfen: Hilft uns der juristische Denkansatz bei der Betrachtung der österreichischen Geschichte weiter? Dient er der Bewältigung der Trauer über die Millionen von Toten, die der Nationalsozialismus verursacht hat? Ist er eine Anerkennung des Leids jener Menschen, die, aus Österreich verjagt, auch heute noch mit den traumatischen Erlebnissen in Zusammenhang mit dem Tod ihrer Angehörigen fertig werden müssen? Hilft er bei der Benennung der Ursachen, die zur Machtergreifung der organisierten Barbarei geführt haben?

Die historische Bedeutung der "Opferthese" lässt sich gut in zwei Sätzen der Historikerin Brigitte Bailer, Mitglied der HistorikerInnenkommission, zusammenfassen: "Diese im Hinblick auf die Staatsvertragsverhandlungen von außenpolitischen Opportunitätsüberlegungen diktierte These erfuhr entgegen dem Wissen der maßgeblichen Politiker um den tatsächlichen Sachverhalt rasch eine innenpolitische Verselbstständigung. Mithilfe der ,Opfertheorie' erteilte die Zweite Republik nicht nur dem Staat Österreich die Generalabsolution, sondern auch der überwältigenden Mehrheit seiner Staatsbürger."

Der "Zeitzeuge"

Wieder möchte ich mir keinen Anspruch auf historische Wahrheit anmaßen. Eines traue ich mich aber doch zu sagen: Keine meiner Fragen ließe sich guten Gewissens mit Ja beantworten. Der Klagenfurter ÖVP-Altbürgermeister und nunmehrige Obmann des Vereins Kriegsheimkehrerstätte Ulrichsberg, Leopold Guggenberger, warf mir "Beleidigung Österreichs" vor. Er könne, schreibt Guggenberger, "als Zeitzeuge" die Richtigkeit von Schüssels Behauptung bestätigen. Er habe nämlich mit hundert anderen am 11. März 1938 "Heil Hitler"-Rufende mit Parolen wie "Rot-weiß-rot - bis in den Tod" gestört.

Aber beschreibt Guggenberger "Österreich"? Nein, er beschreibt das persönliche Erleben eines jungen Mittelschülers, der mit einer Regierung sympathisierte, die in Österreich die Demokratie abgeschafft hat, auf die eigene Bevölkerung schießen ließ, und die selbst in der höchsten Not jede Unterstützung seitens ihrer politischen GegnerInnen, der SozialdemokratInnen, zurückwies. Obwohl die Eigenstaatlichkeit Österreichs auf dem Spiel stand. Kurz: Guggenberger beschreibt das Erleben einer kleinen Minderheit. Sein persönliches Erleben ist ernst zu nehmen. Wahr- und ernst zu nehmen - und damit bin ich bei der Begründung für meine scharfe Reaktion auf das Schüssel-Interview - ist aber auch das persönliche Erleben der 130.000 Vertriebenen sowie der Ermordeten und ihrer Angehörigen.

Schüssel tut das nicht. Dem Bundeskanzler fällt zum Nationalsozialismus zuerst das "buchstäbliche" Opfer Österreich ein, bevor ihm dämmert, dass es da ja auch noch so etwas wie eine allgemeine "moralische Verantwortung" gibt. Und er steigert diesen Affront gegen die Opfer des Nationalsozialismus noch mit der Behauptung, Österreich sei "mit Gewalt genommen" worden. "Mit Gewalt genommen" (!), wo doch am 11. März 1938 nicht nur kein Schuss gefallen ist, sondern sich alle Institutionen und ein übergroßer Teil der Bevölkerung bereitwillig in das "neue" Großdeutschland integrieren ließen.

Ist das Verantwortung?

Es fällt mir schwer zu glauben, dass Schüssel - und er ist mit seiner Ansicht nicht allein in der Regierung, auch die Außenministerin äußerte sich ähnlich - nicht wusste, welche Wirkung er mit seiner Äußerung gegenüber einer israelischen Zeitung im Vorfeld des Jahrestages des Pogroms gegen jüdische Mitmenschen erzielen würde. Ist das die "Sensibilität", die uns das Regierungsprogramm der blau-schwarzen Regierung im Umgang mit der Vergangenheit verspricht? Ist das die Art und Weise, wie Österreich sich "seiner Verantwortung aus der verhängnisvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den ungeheuerlichen Verbrechen des Nationalsozialistischen Regimes" stellt, wie es in der Präambel zum Regierungsprogramm heißt?

Romantisierung

Des Kanzlers romantisierende Bezugnahme auf den austrofaschistischen Staat als "erstes Opfer" verdeckt die österreichische Geschichte der Jahre 1933 bis 1938, in denen diese Gesellschaft zum Nährboden für den Nationalsozialismus geworden ist. Sie vertuscht das Ausmaß der Mitwirkung dieser Gesellschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Sie blendet jene aus, die aus "rassischen", politischen, religiösen, sexuellen oder anderen Gründen nicht in das Weltbild des Nationalsozialismus passten und daher gequält, vertrieben oder ermordet wurden.

Die Reaktionen auf die Kanzler-Aussagen waren entsprechend. Und die Verhandlungen um die Entschädigungszahlungen für geraubtes Vermögen sind beeinträchtigt. Das alles soll mich nicht erschüttern? Das soll kein Rückschritt hinter die Vranitzky-Erklärungen von 1988 und 1993 sein?