Ohne Göd a Musi: Seit 18 Monaten kursiert eine Software im Internet, die sich nicht nur zum schauerlichsten Alptraum der Musikindustrie entwickelt hat, sondern den bürgerlichen Eigentumsbegriff schlechthin unterminieren könnte. Anmerkungen zum MP 3-Tauschprogramm Napster von Christoph Winder.
Nach der schönen Definition des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches ist Eigentum die rechtliche Befugnis, mit einer Sache nach Gutdünken zu schalten und zu walten und jeden Dritten von ihrem Gebrauche auszuschließen. Religionsstifter wie Buddha oder Jesus oder Philosophen wie Rousseau oder Marx haben diese zutiefst bürgerliche Institution des Eigentums mit Skepsis betrachtet.
Die einen befürchten, dass es eine abträgliche Wirkung auf das menschliche Seelenheil ausübt. Für Rousseau hat das Unglück des Menschengeschlechts zu dem Zeitpunkt begonnen, als der Erste sich mutwillig einen Teil vom allgemeinen Eigentum abzwackte und ein Stück Erde, das er mit einem Mal als das Seine betrachtete, mit einem Zaun umfriedete. Für Marx wiederum ist die Verwandlung des "zwergenhaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger" (Das Kapital) ein Begleitprozess der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals.
Nach Jesus und Marx der jüngste Exponent eines kritischen Eigentumsbegriffs ist der 19-jährige amerikanische Schüler, Firmengründer und Softwareprogrammierer Shawn Fanning. Anders als seine philosophischen Vorläufer hat Fanning die Welt des Eigentums nicht neu interpretiert, wohl aber in einer Radikalität verändert, die ihresgleichen sucht.
In den 18 Monaten, seit sein Musikaustauschprogramm Napster sein Wesen im Internet treibt, ist es zu einer Erosion des Immaterialgüterrechtes gekommen, die die Geschäftsgrundlagen einer Milliardenindustrie unwiederbringlich unterhöhlt und unterlaufen hat. Wer immer mit einem Computer und einem Internetanschluss ausgestattet ist, hat die Möglichkeit, in Windeseile das Musikstück seiner Wahl von der Festplatte eines anderen Napsterianers zu saugen, und zwar zu außerordentlich vorteilhaften Konditionen: Für die geschätzt 38 Millionen Benützer der gerade einmal knapp über ein Megabyte großen Software, die in einer Haltung der "fröhlichen Anarchie" (FAZ) weltweit ihre Musikdateien hin- und herflippen, heißt das Motto schlicht "Ohne Göd a Musi", Shawn Fanning sei Dank.
Wenn es ein Halbwüchsiger, der mit seinem teils mürrischen, teils ausdruckslosen Gesicht und seinem glattrasierten Quadratkopf nicht eben wie das Sinnbild eines Epochenbruchs anmutet, binnen weniger Monate zweimal auf das Cover von Time schafft, darf man davon ausgehen, dass große Veränderungen ihren Schatten vorauswerfen.
Verständliche Sorge
Das ist in der Tat der Fall. Die Liaison des Musikpiraten mit dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann, über die in den letzten Wochen viel Tinte geflossen ist, zeigt, wie verzweifelt die Industrie bemüht ist, die kostenlose Rücküberführung des massenhaften Eigentums weniger in das zwergenhafte Eigentum vieler zu stoppen.
Die Sorge ist verständlich, zumal ja Napster nur der Vorschein eines weit umfassenderen Tauschgeschehens ist: In wenigen Jahren, und entsprechende Bandbreite vorausgesetzt, werden nicht nur Songs en gros durchs Internet gebeamt werden, sondern ganze Filme. Hollywood blühen mittelfristig die gleichen Aussichten wie Sony, Bertelsmann und Co.
Während die Industrie zuerst auf die Taktik gesetzt hat, Napster durch Sonne und Mond zu klagen, hat Bertelsmann mit einem spektakulären 50-Millionen-Dollar-Deal auf eine Strategie der Umarmung umgeschwenkt. Über die Pläne, die Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff im Schilde führt, gibt es keine restlose Klarheit. Wahrscheinlich will er die Napster-Nutzer zur Zahlung eines geringen Entgelts motivieren (im Gespräch ist ein Betrag zwischen fünf und zehn Dollar monatlich), damit er - und die Musiker - wieder auf ihre Kosten kommen.
In diversen Chatrooms geht freilich auch die Spekulation um, Bertelsmann könnte den Laden überhaupt gleich dicht machen, um sich so des lästigen Konkurrenten zu entledigen. Ob das das Problem der Industriegiganten lösen würde, ist mehr als zweifelhaft. Denn die Technologie ist nun einmal vorhanden und taucht unablässig unter neuen Namen, an die sich sofort neue Communities anlagern, im Netz auf. "Die Kuh ist aus dem Stall", bringt ein Napster-Nutzer, der seine Musik seit Monaten kostenlos aus dem Internet bezieht (vgl. weiter unten), die Sache auf den Punkt.
Etwas vornehmer formuliert es der US-Kulturkritiker Jeremy Rifkin, der in seinem unlängst auf Deutsch erschienenen Buch Access ebenfalls einen grundlegenden Wandel des Eigentumsbegriffs heraufziehen sieht und von einer "Vernapsterung" der Ökonomie spricht: "Firmen und Konsumenten beginnen eine zentrale Wirklichkeit des modernen ökonomischen Lebens in Frage zu stellen: nämlich den Austausch von Eigentum zwischen Käufern und Verkäufern auf einem Markt."
Die technischen Voraussetzungen sind jedenfalls gegeben, dass Musik in die Kategorie der "res communes omnium" des römischen Privatrechts einrücken könnte: kostenlos und jedermann zugänglich wie Sonne und Luft. Wenn das Internet, das Handel und Wandel befördert hat wie keine Erfindung seit Dampfmaschine und Automobil, im Gegenzug zu einer Umdeutung der Eigentumsbegriffs führen würde, auf dem dieser Handel ja erst beruht - das wäre wahrhaftig keine geringe Ironie der Geschichte. Auf den Fortgang der Napster-Saga dürfen wir mit Recht gespannt sein.
Ein ehemaliger CD-Käufer über sein Leben mit Napster
Aufgezeichnet von Ch. Winder
Dass ich hier nicht mit meinem Namen aufscheine, zeigt, wie man sich fühlt, wenn man Napster benutzt: Schuldig. Allerdings nur ein bisschen schuldig. Sagen wir: So schuldig, dass ich es nicht unbedingt an die große Glocke hängen und mit meinem Namen unterschreiben möchte, dass ich seit fast einem Jahr keine einzige CD mehr gekauft habe. Man weiß ja nie, wer die Zeitung liest und auf was für Ideen ein Überheberrechtsadvokat kommen könnte.
Seit ein paar Monaten beziehe ich meinen musikalischen Nachschub hauptsächlich - nein, wenn ich ehrlich bin, inzwischen ausschließlich - aus dem Internet, mit einem Zauberschlüssel, der Napster heißt und der mein Leben als Musikkonsument von Grund auf umgedreht hat. Wie heißt doch dieses schöne Stück von Dario Fo? "Bezahlt wird nicht."
Aber ich fange von vorne an. An einem Abend im vergangenen Februar komme ich von der Arbeit nach Hause und will routinemäßig durch meine E-Mails gehen, als mich plötzlich ein neues Ikon vom Desktop her anschaut: Ein, wenn ich es recht sehe, grauer Katzenkopf mit grünen Augen und einem blauen Kopfhörer. Darunter ein Schriftzug, mit dem Namen "Napster". Zum besseren Verständnis muss ich hinzufügen, dass ich nicht der Einzige bin, der an diesem Computer arbeitet. Meine 15-jährige Tochter braucht ihn nicht nur für ihre stundenlangen Chat-Beziehungen, sondern sie lädt auch ständig neue Software aus dem Netz herunter, nicht zu meiner Freude. Ich hab' immer schon an großer Virenangst gelitten.
Ich hatte damals schon von diesem Musikaustauschprogramm namens Napster gelesen, und wenn es nun schon einmal auf der Festplatte war, nun, warum sollte ich es da nicht einmal ausprobieren. Also, Mausklick auf den Katzenkopf, Sesam öffne dich und zeig, was du kannst. Die Benutzeroberfläche von Napster ist kein ästhetisches Meisterwerk. Aber für Leute, die sich nur ein wenig mit Computern und dem Internet auskennen, erschließt es sich schnell, wie die Sache funktioniert. Ich sehe die Suchmaske mit den Zeilen "Artist" und "Title", ich gebe "Beatles" und "Come together" und befehle "Find it." Ein paar Sekunden vergehen, und plötzlich kommt diese lange Liste auf den Bildschirm: Beatles - Come together; Beatles - Come together, Beatles - Come together und so fort. Ich klicke auf eine Zeile, eine zweite Maske, auch nicht schwer zu verstehen, geht auf: Filename - Filesize - User - Speed - Time left. Vor allem die letzte Spalte ist interessant: Fünf Minuten dauert es, dann meldet Napster, dass die Datei komplett auf der Festplatte gespeichert ist, ein weiterer Doppelklick, der Windows-Mediaplayer poppt auf, aus den Lautsprechern kommt es glasklar und knochentrocken: Here come old flattop he come grooving up slowly he got ...
Wohliger Schauer
"Wohliger Schauer" klingt blöd, aber es war genau das, was ich in diesem Moment gespürt habe. Wenn man im Schlaraffenland ankommt, muss man sich ähnlich fühlen: alles in Reichweite, alles zum Nulltarif. Allein in dieser Nacht habe ich mir 50 Songs auf die Festplatte geholt (alles in allem habe ich jetzt 650), und es war nicht die Gier, die mich getrieben hat, sondern die Rachsucht. Gut, die Musikkonzerne wollen Profite machen, das liegt in der Natur der Sache. Wenn man aber jahrelang 200 Schilling und mehr für eine CD bezahlen muss, fühlt man sich einfach übers Ohr gehauen.
Ich schreibe seit Monaten keinen Brief mehr und fülle keine Tabellenkalkulation mehr aus, ohne dass nicht im Hintergrund Napster läuft, nicht mehr aus Rachsucht, sondern einfach weil es so unwahrscheinlich komfortabel ist und weil ich auch das Gefühl habe, Teil einer weltweiten Gemeinschaft zu sein. Ich fantasiere oft, wer wohl am anderen Ende der Leitung sitzen mag, wenn die Songs durch die Leitung sprudeln: Der User BW1599, von dem ich mir gerade eine alte Bowie-Nummer herüberziehe, ob der (oder die?) in Island sitzt, in Tokio, in Boston? Ich bin ein Spät-68er und mag die Stones und die Beatles, aber ich habe mich immer auch für Abgelegeneres interessiert. Da war Napster am Anfang frustrierend für mich. Auf der Leiste am Fuß des Bildschirms, wo das Programm anzeigt, auf wie viele MP3-Files man gerade Zugriff hat, waren es im Februar meist nur zwischen 1000 und 2000 Gigabyte.
Zu der Zeit hatte ich noch das Gefühl, dass ich mit jedem Musikwunsch, der ein bisschen ungewöhnlicher war, ins Leere lief und dass Napster so etwas bot wie den kleinsten gemeinsamen Nenner des musikalischen Geschmacks auf diesem Globus.
Aber das hat sich sehr geändert. Als im Frühherbst das Gerücht die Runde machte, dass Napster vom Netz genommen wird, begannen die Leute wie wahnsinnig herunter- und hinaufzuladen. Aus den 1000 oder 2000 Gigabyte sind binnen kürzester Zeit 5000, 6000 oder sogar 7000 Gigabyte geworden, das Angebot ist viel, viel größer und bunter geworden. Ich habe heute kein Problem mehr, eine Nummer von Hatfield and the North oder Argent zu finden. Was mir noch fehlt, ist Elastic Rock von Nucleus. Wenn das irgendjemand ins Netz stellen könnte: Ich wär' ihm dankbar.
Ich bin selbst in einem Kreativberuf tätig und sehr dafür, dass die Leistung der Musiker auch bezahlt wird. Wenn Bertelsmann ein
gutes und faires Modell findet, bin ich der Erste, der bezahlen wird. Wenn sie aber den Laden einfach zusperren, gibt es vielleicht
kein Napster mehr, aber am nächsten Morgen wird es ein Papster oder Rapster oder Zapster geben. Die Kuh ist aus dem Stall.
Ein Zurück gibt es keines mehr. Da müssten sie schon vorher das ganze Internet herunterfahren.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, ALBUM, 18./19. 11. 2000)