Bühne
Spazieren und sezieren
Ignaz Kirchner spielt und spricht Robert Walser im Burg-Vestibül
Wien - Einer flaniert durch die Gassen seiner Heimatstadt - und ist doch kein Flaneur. Er ist ein Nachgänger von Dandys, von Pariser Literaten, von jemandem wie Charles Baudelaire - aber hat mit diesen kaum etwas gemein. Kein eleganter Hut, kein wertvoller Stock, kein nobler Regenschirm. Robert Walser hat in seinem Prosastück Der Spaziergang
den Flaneur, wie ihn Walter Benjamin beschrieben hat, einfach am Wegesrand stehen lassen. Und Ignaz Kirchner marschiert in seinem Vestibül-Soloabend eindrücklich an ihm vorbei.
Kirchner gibt keinen Prototypen des weltgewandten, mondänen "Spaziergängers", keinen "Prototypen der Moderne" gewissermaßen: Er leidet an der Moderne. Obwohl er jede Alltäglichkeit - scheinbar mit viel Liebe - minutiös beschreibt, findet er in allem überreichlich Stoff für seinen Lebensekel.
Robert Walsers Biel des Jahres 1916 ist eine Welt, so wohlfeil und wohlgeordnet wie ein Schweizer Puppenhaus. Stößt man sachte daran, stürzt es in sich zusammen. Walser hat ihr mit seiner Kanzleisprache ein literarisches Denkmal gesetzt. Jede Wendung windet sich unter der Last dieser allergespreiztesten, allerhöflichsten Schriftsprache. Ignaz Kirchner macht sich gar nicht die Mühe, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Alles was zart, lieb und bescheiden ist, verursacht ihm einen unaussprechlichen Graus oder besser: einen Graus, über den es nicht mehr aufhört zu reden in ihm.
Kirchner wird bis kurz vor Ende des 90-minütigen (kurzweiligen) Vorspiels und Vortrags auf seinem Stuhl, hinter dem kleinen schwarzen Tischchen, verkniffen sitzen bleiben. Er zappelt, er windet sich, er setzt sich auf - aber er steht nicht auf. Er echauffiert sich über den Bäcker, den Bankbeamten, die Gastgeberin. Auf der Spielwiese seines Gesichtes turnen dabei die (Hinter-)Gedanken um die Wette, die Augenlider flattern, die Haupt-Adern pulsieren. Ein verklemmter Pirat, der die Standeswelt entern möchte. Und der dabei ein eindrückliches Plädoyer für den Dichter als Müßiggänger abgibt. Der Spaziergang: zweckmäßig ohne Zweck. Dass Kirchner in Robert Walsers "Spaziergänger" wie nebenbei einen Bernhardschen greinenden, grummelnden Kunstmenschen entdeckt, ist eine schöne Zusatzgabe dieses Abends.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. 11. 2000)