Wien - Genau besehen - oder in diesem Fall besser, genau behört - müsste man das nicht nur in London, sondern auch im englischen Bedford und Leicester residierende Philharmonia Orchestra in Wien mit striktem Aufführungsverbot belegen. War doch sein Auftritt am vergangenen Samstag im Musikverein ganz dazu angetan, die harmonische Bigamie, in welcher der Wiener Musikfreund nun einmal mit seinen Philharmonikern und Symphonikern Jahr auf, Jahr ab den Konzertalltag bewältigt, auf belebende Weise zu verstören.Das Potenzial der Stille Zu solcher Faszination bedarf es bei einer Begegnung keiner großen Gesten und keines lauten Getöses. Da reicht schon ein eindringliches Pianissimo, mit dem die britischen Gäste unter ihrem Chefdirigenten Christoph von Dohnányi The Unanswered Question von Charles Ives formulierten. Dieser zwischen Streichern, Holzbläsern und Solotrompetern ablaufende kurze und labile Orchestertrialog kann als Eröffnungsstück eines Konzertes nur dann bestehen, wenn er das Gefühlspotenzial der Stille in geradezu gläserner Klarheit zu mobilisieren versteht. The unanswered Question scheint zu Dohnányis Favoriten zu zählen, denn schon vor vier Jahren ließ er sein Cleveland Orchestra bei den Salzburger Festspielen dieselben Ives-Fragen stellen. Ebenso wie er auch diesmal wieder zum bejubelten Schluss mit der ersten Symphonie von Johannes Brahms auftrumpfte. Zwischen den Polen Beethoven und Schumann dunkelten die Gäste alle zum stampfenden Beginn des Werkes noch strahlenden Blech- und Streicherscheinwerfer der Klassik nach und nach zum terzenreichen Halbdunkel ab. Ganz dazu angetan, um darin alle melodischen Herzensergießungen des 41-jährigen Brahms klangsatt aufschäumen und abebben zu lassen und trotzdem die Gesamtarchitektur des Werkes kenntlich zu machen. Eine kleine rhythmische Irritation, während der sich die Solovioline im zweiten Satz etwas allein gelassen anhörte, erinnerte fast angenehm daran, dass auch so brillante Briten fehlbar sind. Während der in ihrer musikalischen Klarheit und technischen Bravour kaum noch überbietbaren Wiedergabe von Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta hätte man daran zweifeln können. Ebenso wie an der Richtigkeit des Programmvermerks, nach dem Christoph von Dohnányi an einer schmerzhaften Schulterluxation laboriere. Wenn eine derartige Verletzung solche gestische Eindringlichkeit bewirkt, wäre diese auch dem jungen, in den USA lebenden Russen Yakov Kreizberg zu wünschen, der tags zuvor am Pult der Wiener Symphoniker debutierte. Matter Tschaikowskij Sicher, die 22-jährige Amerikanerin Leila Josefowicz hat ihm dies als Solistin in Tschaikowskijs Violinkonzert nicht ganz leicht gemacht. Ihre echte technische Brillanz und ihr noch etwas unechtes musikalisches Temperament führten zu rhythmischen Differenzen, die Kreizberg mit dem etwas unanimiert wirkenden Orchester nicht koordinieren konnte. Da geriet der orchestrale Großroman, den Dmitrij Schostakowitsch unter dem Titel Das Jahr 1905 mit seiner 11. Symphonie geschrieben hat, schon wesentlich wacher und intensiver. Diese auffallend einfach und trotzdem fern jeder Banalität geschilderten Szenen des blutig niedergeschlagenen Aufruhrs gegen das Zarenregime erhielten klare, wenn auch nicht gerade faszinierende Konturen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. 11. 2000)