St. Petersburg - "Gedächtnis des Körpers. Unterwäsche in der Zeit des Sozialismus" ist eine Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Museum für Stadtgeschichte St.Petersburg, dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst in Nishni Nowgorord, der Russischen Nationalbibliothek St.Petersburg, und dem Goethe-Institut Moskau in den Sälen der Sankt-Peter-und-Pauls-Festung in St. Petersburg eingerichtet wurde. In sowjetischer Zeit spielten Textilien nur in geringem Maße eine Rolle für die Identitätsstiftung des Einzelnen in der Gesellschaft. Erotische Kleidung galt geradezu als Tabu der sozialistischen Gesellschaft. Sogar die Frage des persönliches Wohlbefinden durch Bekleidung war offiziell ausgespart. Diese Ausstellung macht private leibliche Erinnerung an die eigene Kleidung zum öffentlichen Thema und entdeckt die Unterwäsche als Kulturgut für das Alltagsleben wieder. Die Ausstellung wird von einem Forschungsteam der Europäischen Universität zum Bereich der Mentalitätsgeschichte begleitet und ist bis 31. Januar 2002 zu besichtigen. Seit Beginn am 8.11. lockt die Sammlung bis zu 4.000 MuseumsbesucherInnen pro Tag an. "Die Leibwäsche eines Sowjetbürgers musste einfach, warm und haltbar sein. Das waren die obersten Grundsätze der Zeit", erinnert sich Museumsbesucher Alexander Iwanow. Geschlechtsneutrale Leninära-Lingerie Der erste Saal, der sich der Zeit direkt nach der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 widmet, zeigt die schöne neue Welt der Leninära-Lingerie. In den frisch verstaatlichten Fabriken hergestellte altmodische Mieder und Korsetts füllen die Vitrinen. Aber auch die Auswirkungen der stalinistischen Säuberungen auf das Unterwäsche-Design zeigen sich in dem Hang zu geschlechtsneutrale Modellen aus den dreißiger Jahren, einer Dekade, in der das Bild der sowjetischen Frau durch Militärparaden und Freiluft-Körperertüchtigung geprägt war. Unten drunter unter Breschnjew und Glasnost-Gorbatschow Nachthemden aus dicker Baumwolle und wollene Unterhosen in rosa, gelb und blau dominieren den zweiten Saal, der der poststalinistischen Ära von den fünfziger Jahren bis zum Höhepunkt des Kalten Krieges in der Breschnjew-Zeit gewidmet ist. Im letzten Saal sehen die BesucherInnen, wie die von Michail Gorbatschow ausgerufene Glasnost auch die Welt der Dessous ergriff und Hersteller die in Modefragen versäumte Zeit in Windeseile nachholten. Das Ende des Kommunismus 1991 schließlich fällt zusammen mit einer Explosion der Farben in der russischen Unterwäsche, mit einer großen Bandbreite neuer Entwürfe und sündiger Formen mit verheißungsvollen Namen wie "Venus" oder "Diana". Toll, heute sexy Wäsche kaufen zu können Die Ausstellung weckt bei den BesucherInnen heftige Gefühle: "Es wäre witzig gewesen, wenn es nicht so traurig wäre. Für mich und alle Frauen meiner Generation gab es keine Alternative. Wir konnten nichts anderes kaufen", erinnert sich die 57-jährige Tatjana Wasilijewna. Die fünf Jahre ältere Valentina Petrowna kann gar nichts Lustiges an der Schau entdecken: "Die Ausstellung ist ungerecht und verletzend für ältere Leute. Die Organisatoren haben keinen Respekt vor ihrer Geschichte und ihrem Land", schimpft sie. Für die 17-jährigen Schülerinnen Olga und Alina dagegen ist die Schau "ein Riesenspaß". "Ich habe Glück, dass ich heute schöne und sexy Wäsche kaufen kann", sagt Alina. "Wenn ich daran denke, dass unsere Mütter und Großmütter diese Sachen tragen mussten, wird mir ganz anders." (red/APA)