Als Mittelschüler in Spittal an der Drau bin ich ins Theater nur gekommen, wenn das Theater zu uns kam, das Stadttheater Klagenfurt, später auch die Studiobühne Villach. Gastiert wurde im großen Saal des Gewerkschaftshauses, in dem sonst Seniorenabende stattfanden, manche Bälle, die Sitzungen der Faschingsgilde. Erst in den letzten beiden Schuljahren war es möglich, ein Schülerabo für Aufführungen in Klagenfurt zu kaufen. Mit einem Bus wurden wir hin- und zurückgebracht, und diese wächterlosen Reisen führten die wenigsten von uns ins Theater, die meisten in Wirtshäuser und Tanzlokale. In der Langeweile der Kleinstadt aber waren Theateraufführungen Abwechslung, und ich habe nur wenige versäumt. Es blieb mir eine Vorliebe für die Theaterprovinz, beziehungsweise in der Großstadt für die Vorstadt, die Die Zauberflöte hervorgebracht hat und den grandiosen Nestroy und der immer noch schöne Stücke entwachsen, beispielsweise Dorfer/Haders Indien, das man fälschlicherweise für Kabarett hält. Die Nachteile, die das Provinztheater hat, habe ich immer als seine größten Vorteile betrachtet. Weil Bühnenbild und -technik zwangsläufig, da man ja wandern muss, immer andere Säle bespielt - und nicht immer besonders theatergerechte -, auf das Notwendigste reduziert werden müssen, bleiben den Regisseuren nur zwei Säulen, die ihre Inszenierung tragen können: Schauspieler und Text. Nirgendwo besser als in der Provinz lässt die Beschaffenheit dramatischer Literatur sich überprüfen. Besitzt sie Qualität, wie beispielsweise Jean-Claude Grumbergs in Frankreich sehr erfolgreiches Stück Das Atelier, das aus unerfindlichen Gründen erst 22 Jahre nach seiner Entstehung als Produktion des Volkstheaters in den Außenbezirken im Akzent seine österreichische Erstaufführung erlebte, kann ihr auch eine völlig indisponierte Hauptdarstellerin nichts anhaben. Besitzt sie keine, werden in der Provinz ihre Mängel schonungslos vorgeführt. Das Provinz- bzw. Vorstadttheater hat aber vor allem ein Unschätzbares: Es ist nicht elitär. Die Experten der Kritik bleiben ihm fern. Falls die Zeitungen überhaupt jemanden in die Premieren schicken, dann Nachwuchskräfte. Auch dem Publikum verspricht der Besuch keinen Prestigezuwachs. Man kennt sich zwar, aber man geht nicht hin, um gesehen zu werden, sondern will nur für zwei Stunden austreten aus dem Alltag und Menschen dabei zusehen, wie sie Menschen darstellen, die andere Menschen sich ausgedacht haben. Die Vorstadt, seit jeher, gehört den wenig Begüterten, der, wie man früher gesagt hätte, Arbeiterklasse. Es war daher die sozialdemokratisch dominierte Arbeiterkammer, die seit 1954 die Volkstheater-Tournee durch die Wiener Außenbezirke finanzierte. Damals hieß die SPÖ noch Sozialistische Partei Österreichs, damals wollte sie glaubwürdig noch mehr für die Menschen als von den Menschen. Heute ist sie die stimmenstärkste neoliberalistische Partei im Lande. Das ist spätestens dann klar geworden, als ihr Geschäftsführer nach der verlorenen Wahl, als wäre nichts selbstverständlicher, zum Stronach-Konzern wechselte, aus dem die Freiheitlichen den Finanzminister holten. Diese SPÖ hasst, was sie immer noch zu sein vorgibt, sie kann sich nicht riechen. Den muffigen Filzgestank, den sie verströmt, verwechselt sie mit den Ausdünstungen der Armut und versucht, ihn loszuwerden, indem sie sich von allem trennt, was auf ihre proletarische Herkunft hinweist. Die Arbeiterkammer hat daher bekannt gegeben, dass sie die siebzehn Millionen Schilling, die sie pro Jahr das Volkstheater in den Außenbezirken kostet, nicht mehr hergeben wird. Kein Vorstadttheater mehr in der Großfeldstraße, keines im Haus der Begegnung am Praterstern. Dass auch die Privatwirtschaft unter diesem Beschluss leiden, das benachbarte Café Heine an sieben Abenden im Jahr beträchtliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen haben wird, wird ebenso in Kauf genommen wie die Zerschlagung einer über Jahrzehnte gewachsenen Struktur, die, auch wenn man sie vielleicht früher, als man denkt, gern wieder zur Verfügung hätte, nicht mehr oder jedenfalls nur sehr schwer wiederherzustellen sein wird. Es ist beschlossene Sache. "Da fahrt die Eisenbahn drüber", sagt die Sozialdemokratie (ganz frühe Prägungen wird auch sie nicht los) und steigt ins Taxi Orange. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 11. 2000)