Mit den jüngsten Äußerungen von Bundeskanzler Schüssel gegenüber der Jerusalem Post steht die Frage nach der Opfertheorie als offiziellem Geschichtsbild der Zweiten Republik neuerlich zur Disposition. Diese Debatte schien bereits abgeschlossen: Die Waldheim-Affäre hatte als Katalysator für eine Neuverhandlung der österreichischen Haltung zur Vergangenheit gewirkt. Die Auseinandersetzungen um die Beurteilung der März-Ereignisse bewegten im "Anschluss"-Gedenkjahr 1988 weit über die Geschichtswissenschaft hinaus die Öffentlichkeit, wobei weitgehend darüber Einigkeit herrschte, dass die Reduzierung des "Anschluss"-Geschehens auf die militärische Okkupation eine einseitig-verfälschende Sichtweise darstellt, denn die reibungslose Besetzung von "außen" war nur möglich durch den "Anschluss von innen" (Gerhard Botz), die Machtübernahme der österreichischen Nationalsozialisten in den Institutionen und in öffentlichen Sympathiekundgebungen.

Die Kritik an der Opferthese als der "österreichischen Lebenslüge" richtete sich aber weniger auf die Darstellung des März 1938, die durchaus unterschiedliche Interpretationen zulässt, sondern auf die politischen Konsequenzen dieser Argumentation: die Ausblendung des Nationalsozialismus aus der österreichischen Geschichte und ihre Folgen für die politische Kultur der Zweiten Republik.

Diese "Externalisierung" erfolgte allerdings in zwei unterschiedlichen Varianten: Gegenüber dem Ausland wurden die Unterdrückung durch das NS-Regime und der österreichische Freiheitskampf hervorgehoben, in Österreich selbst besagte die Opfertheorie vor allem, dass das Land mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen nichts zu habe. Die geschichtspolitischen Leitlinien orientierten sich an der Integration der ehemaligen Nazis und an den Konfliktlinien des Kalten Krieges. Der antifaschistische Grundkonsens der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde bereits am Ende der 40er-Jahre von Antikommunismus und dem "Buhlen" um die Stimmen der Ehemaligen abgelöst.

In diesem Konsens des Schweigens über die NS-Vergangenheit wirkte die "andere" Erinnerung der eigentlichen Opfer vielfach als "Störfaktor", wie in der geringen Präsenz von Gedenkstätten für die Opfer rassischer Verfolgung in der Denkmallandschaft sichtbar wird. Zugleich wurde mit der Argumentation der Opfertheorie die Ansprüche von jüdischen Opfern zurückgewiesen: Da es keinen österreichischen Staat gegeben habe und für die Verfolgung der Juden Deutsche und nicht Österreicher verantwortlich seien, bestünde keine Verpflichtung zu Wiedergutmachungsleistungen, wurde etwa 1953 angesichts von Entschädigungsforderungen der Jewish Claims Conference erklärt.

Die Distanzierung des offiziellen Österreich von einer einseitigen Opfertheorie, das Bekenntnis zu den "dunklen Stunden" der Geschichte und die Entschuldigung bei den Opfern, wie sie seit dem "Anschluss"-Gedenken im März 1988 in zahlreichen politischen Erklärungen formuliert wurden, bezieht sich also nicht nur auf die Beurteilung des März 1938, sondern vor allem auf die problematischen Instrumentalisierungen der Opfertheorie nach 1945.

Das Bekenntnis zur Mitverantwortung für die NS-Verbrechen signalisiert aber nicht nur den Abschied von den politischen Mythen der Nachkriegszeit, sondern auch die Orientierung an einem transnationalen europäischen Geschichtsbewusstsein, in dessen Zentrum zunehmend der "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) steht.

Diese Erinnerung wird als Auftrag für gegenwärtiges politisches Handeln verstanden, als Maßstab für eine politische Kultur, die entschieden gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit auftritt. Die Opfertheorie ist eben nicht nur eine Erzählung über die Vergangenheit, sie wurde zum Symbol für das Weiterwirken dieser Vergangenheit nach 1945, für die Verdrängung und Tabuisierung des österreichischen Anteils an den Verbrechen des NS-Regimes.

Aus einer transnationalen Perspektive signalisiert das Argument der Opfertheorie das Abrücken von einem europäischen Geschichtsbewusstsein, das in den letzten Jahren gerade durch die Auseinandersetzung mit der Involvierung der eigenen Gesellschaft in die NS-Verbrechen entstanden ist.

Heidemarie Uhl lehrt Zeitgeschichte an der Uni Graz.