Wagen wir uns auf eine kurze Reise in die Wirklichkeit unserer wahrscheinlichen Zukunft. Wir leben im Jahr 2004, vielleicht auch im Jahr 2006, also morgen oder übermorgen, denn in unserer globalisierungsbeschleunigten Gesellschaft sind Jahre kaum der Rede wert.

Einige Staaten also sind bereits neu in die Europäische Union aufgenommen worden. Niemand in Brüssel konnte im Jahr 2000, also gestern oder vorgestern, sagen, wie viele und welche Länder dies sein würden. Man wusste allenfalls, dass Polen in der ersten Runde der Neuaufnahmen dabei sein wird, und so sind im Jahr 2004 oder 2006 auch Millionen Landwirte neue EU-Bürger, da im östlichen Nachbarland Deutschlands mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern ein Viertel dieser Bevölkerung von der Landwirtschaft direkt und indirekt abhängig ist.

Schreckensvision ...

Hunderttausende polnische Bauern wiederum sind Bergbauern in der Tatra. Aus dem Fernsehen kennen sie nicht nur die betörende Südtiroler Bergwelt. So mancher wird im Jahr 2004 oder 2006 auch schon mit seiner Familie an der Felsgrenze des Rosengartens entlanggewandert und beim Abstieg von der Rotwandhütte unterhalb der Baumgrenze auf der Alm eingekehrt sein.

Dort begegneten die armen polnischen Bauern ihresgleichen - Südtiroler Bauern, die in herzlicher Schlichtheit Schnaps ausschenken, Omeletten auftischen und nur ein Plumpsklo neben den gackernden Hühnern anbieten können. Doch die polnischen Bauern wissen schon oder sie bemerken ganz schnell, dass die Südtiroler Bauern nur scheinbar so arm sind wie sie selbst. Denn der gastfreundliche Bauer unter dem Rosengarten besitzt weiter unten im Tal einen stolzen Hof. Und Südtirols Bauern genießen satte Förderungen aus dem Brüsseler Agrarbudget. Sie sind in ihrem Auftreten die reichsten armen Bauern der Welt.

Zurück in der Heimat, berichten die polnischen armen Bauern, denen jede großzügige Unterstützung nach dem EU-Beitritt wegen der leeren EU-Kassen verwehrt blieb, vom geförderten Schlaraffenland Südtirol. Einer der Bauern kennt einen guten Anwalt und reicht über ihn Klage beim Europäischen Gerichtshof wegen der offensichtlichen Ungleichbehandlung ein. Dies ist sein gutes Recht.

Der Europäische Gerichtshof gibt dem polnischen Bauer Recht. Die EU-Kommission und ihr Agrarkommissar, der nicht mehr Franz Fischler heißt, müssen handeln. Entweder sie gewähren den Polen in der Tatra und außerdem den ebenfalls klagenden Slowaken in den Karpaten zügig gleich hohe Förderungen wie in Südtirol, in Österreich und anderswo im reichen Teil der EU, oder die Förderungen werden gestrichen.

Werden sie gewährt, so ruiniert dies die Europäische Union. Werden sie gestrichen, wehren sich die Bauern Südtirols und anderswo. Denn für sie sind die Gelder aus dem Brüsseler Agrartopf längst so etwas wie wohlerworbenes Recht.

Doch die Vertreter der EU können nicht anders: Sie stehen unter dem Druck der nationalen Regierungschefs, die ihren Wählern ein defizitfreies Budget und zu Recht ein abgespecktes Brüssel versprochen haben.

Die Folge: Euro-Agrarhilfen im Wert von knapp 50 Milliarden Lire (auf der Basis des Jahres 2000) werden nicht mehr nach Bozen zur Verteilung überwiesen.

... ohne Realitätsgehalt?

Südtirols Bauern protestieren. Die Frage wird sein: Wie? Werden sie sich, inzwischen befinden wir uns auf unserer Reise im Jahr 2005 oder 2007, an manche ihrer Eltern erinnern, die damals, im vergangenen Jahrhundert mit nachhaltigem Erfolg Bomben legten und Strommasten sprengten? Oder werden sie sich nur an den LKW-Fahrern aus dem Jahr 2000 ein Beispiel nehmen, die in ihrem Unmut über gestiegene Dieselpreise tagelang in Großbritannien oder Belgien den Verkehr lahm legten und so ihre Regierungen zum Nachgeben zwangen?

Vermutlich werden stolze, aber spätestens zu diesem Zeitpunkt armutsbedrohte Südtiroler Bauern und Bäuerinnen voller Selbst- und Standesbewusstsein beide Möglichkeiten wählen und den neuen Bozener Flughafen ebenso lahm legen wie die Brennerautobahn, an deren Straßenrand reichlich Strommasten zu knicken sind.

Jegliche Grenzüberschreitungen werden damit verhindert, und Südtirol kann so zum Sprengsatz für die EU-Osterweiterung werden.

Wer diese Vision nur als Schreckensbild begreift, möge in der Wirklichkeit bitte Recht bekommen.

Persönlich fürchte ich aber, dass es gar nicht mehr der absehbaren Kürzungen und Streichungen der Agrarsubventionen bedarf, um wütend gewordene Bürger auf die Straße zu treiben. Schon ohne Beitritte neuer Staaten in die Europäische Union im neuen Zeitalter der Globalisierung weltweite Verwerfungen in den bisherigen Wohlfahrtsstaaten absehbar.

Zwar macht uns diese Globalisierung insgesamt reicher - in fast allen Staaten steigt das jeweilige Bruttoinlandsprodukt. Doch der stetig wachsende Kuchen wird auch bei uns - in Österreich ebenso wie in Deutschland oder Italien - immer ungleicher verteilt.

Womit Südtirol im vergangenen Jahrhundert Geschichte machte, kann damit auch in diesem neuen Jahrhundert wieder geschehen. Der zuletzt so gesegnete Flecken Erde zwischen Salurn und Brenner würde so zur unerwarteten Triebfeder neuerlicher europaweiter Spannungen - aber diesmal wegen des hier vorgelebten Wohlstands, genauer: der nachvollziehbar wachsenden Angst vieler Südtiroler, ihn zu verlieren und des ebenso nachvollziehbaren Wunsches so vieler Nichtsüdtiroler, in Wohlstand zu leben.

Hans Peter Martin ist Autor ("Die Globalisierungsfalle"), parteifreier Abgeordneter in der Sozialdemokratischen Fraktion im Europa-Parlament und Mitglied im Grundrechtskonvent.