Einen der diesjährigen Wittgenstein-Preise des FWF hat der angewandte Mathematiker Peter Markowich erhalten. Er beschäftigt sich mit Analysis und partiellen Differenzialgleichungen, die gleichermaßen subatomare wie galaktische dynamische Vorgänge beschreiben helfen. Obwohl er selbst mit den Anwendungen etwa im Halbleiterbau direkt wenig zu tun hat, liefert seine Grundlagenforschung sehr wohl die Modelle, auf die Praktiker aufbauen können. Auch die schwierigen, sogar Fachkollegen nur teilweise zugänglichen Zusammenhänge zwischen klassischer und Quantenmechanik erhellt Markowich mit seinen analytischen Modellen. In den vergangenen Jahren sind vom FWF Leistungen in angewandter Mathematik bereits mehrmals mit hohen Geldpreisen gewürdigt worden (wir berichteten in dieser Serie über Gottlieb, Mauser und Schachermayer). Die genannten Wissenschafter sind - meist nach längeren Auslandsaufenthalten - zur Zeit in Österreich tätig. Man braucht nur (um in der Branche zu bleiben:) zwei und zwei zusammenzählen und kann feststellen, dass sich eine Art kritische Masse der angewandten Mathematik bildet. Und es häufen sich die Geldmittel, diese Masse zu bewegen - 20 Millionen hat allein der neue Preisträger zur Verfügung. Im Gespräch mit Markowich geht es daher auch um die Frage, inwieweit in Wien eine Zusammenarbeit der Wissenschafter vorangetrieben werden kann. Freund : Auf welchen Grundlagen steht Ihre Forschung? Markowich : Seit Newton und Leibniz geht es darum, Naturvorgänge im Bereich der Mechanik beschreiben. Als eine der richtigen Sprachen wurden dafür die Differenzialgleichungen gefunden. Maxwell formulierte in der gleichen Sprache die Gesetze der Elektrodynamik, Boltzmann die Gesetze der Gasdynamik, Schrödinger die Quantendynamik, Einstein die allgemeine Relativitätstheorie. Freund : Was ist Ihr spezieller Beitrag? Markowich : Die mathematische Analysis der Differentialgleichungen hat in den letzten 20 30 Jahren einen tollen Boom erlebt, parallel zur Entwicklung der Computer. Ich beschäftige mich mit der strukturellen Untersuchung der Gleichungen. Es geht darum, strukturelle Wahrheiten über die Gleichungen herauszufinden. Freund : Wahrheiten? Markowich : Sag ma strukturelle Eigenschaften. In der Mathematik gibt es eben absolute Wahrheiten: Unter genau definierten Voraussetzungen hat die Gleichung eine oder mehrere oder keine Lösung. Wenn's fehlerfrei bewiesen ist, ist das eine Wahrheit über die Struktur der Gleichung. Warum so eine mathematische Wahrheit etwas mit der Natur zu tun hat, ist eine andere Frage. Freund : Was gehört noch zu Ihren Tätigkeiten? Markowich : Ich habe mich sehr lange mit Halbleitermodellierung beschäftigt. In Zusammenarbeit mit Halbleiterdesign-Ingenieuren - das war eine Gruppe an der TU Wien um Prof. Selberherr - habe ich die Entwicklung von Bauelementen vorangetrieben. Wir haben begonnen, die Mathematik der Halbleitermodellierung auf solide Beine zu stellen, und das ist immerhin 20 Jahre her. In den letzten 15 Jahren ist das Gebiet förmlich explodiert. Und wir sind noch dran. Heute arbeite ich zum Beispiel mit der Uni Linz auf diesem Gebiet weiter. Freund : Was werden Sie mit dem Wittgenstein-Geld machen? Markowich : Ich habe vor, einen Großteil der Mittel in Personal zu investieren. Zum Modellieren und Analysieren brauche ich nicht einmal teure Computer, das kann heute schon jeder bessere PC. Ich will hochqualifizierte Leute herholen, die forschen und die am höheren Lehrbetrieb teilnehmen, damit die Studenten auch profitieren. Also Menschen; "Human Capital", wenn Sie es im Brüsseler Neusprech wollen. Einige mit diesem Kapital sind eh schon da - der Kollege aus China, den Sie eben gesehen haben, den hat der Norbert Mauser mit seinem START-Geld nach Wien geholt. Ein Italiener wird aus Sao Paulo kommen, dann wahrscheinlich ein Deutscher und ein Russe. Freund : In was für einer Liga könnte Wien dann spielen? Markowich : Wien muss überhaupt erst einmal auf die Landkarte kommen als Zentrum für partielle Differenzialgleichungen, das heißt in einem der wichtigsten Gebiete der Angewandten Mathematik. Freund : Wo sind die großen Zentren? Markowich : Paris vor allem. Mit ca. 20 Unis im Großraum sind da circa 400 sehr gute Leute konzentriert, die Differentialgleichungen auf Topniveau betreiben - übrigens an mehreren Instituten am selben Thema, was eine sehr produktive Konkurrenz bedeutet. Und Deutschland hat zwei Max-Planck-Institute nur für Mathematik. Rom ist sehr stark, Madrid auch. Und natürlich Amerika: New York: das Courant Institut (NYU) ist einfach der Olymp der Angewandten Mathematik plus Computer Science. Dann Stanford und UCLA. Auch in Minneapolis gibt's ein gutes Zentrum, in Rio de Janeiro. Sogar Chile hat bessere Zentren als Österreich. Und China ist die kommende Macht in Angewandter Mathematik: Peking - gut, sehr gut sogar. Freund : Kann Österreich da mithalten? Markowich : Wir werden in der Breite sicher nicht mit Paris mithalten können. Dort hat Mathematik ja auch ein großes Prestige. Dort sind Mathematiker wichtige Figuren, auch in der Wissenschaftspolitik. In Österreich gilt mathematischer Analphabetismus als gesellschaftsfähig. Hier ist kulturelle Aufbauarbeit zu leisten; von den Medien, der Politik - und von uns Forschern selbst! Freund : Bereits Mauser hat im Standard-Interview von einem Zentrum für Angewandte Mathematik gesprochen. Was ist die nächste Phase in Richtung dieses Zentrums? Markowich : Wir wollen ein Wiener "Center of Excellence" gründen, das "Wolfgang-Pauli-Institut", um diesem in Wien geborenen Nobelpreisträger endlich die gebührende Anerkennung zu verschaffen. Und dort soll es zwischen verschiedenen Bereichen der Angewandten Mathematik, der Physik und der Informatik zu Synergien kommen: Synergien in der Einwerbung und Abwicklung von großen "Drittmittelprojekten", wie sie z.B. vom FWF oder von Brüssel in harter Begutachtung erworben werden. Synergien in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Und Synergien in der Forschung auf diesen Gebieten selbst. Freund : Wer oder was soll auf so ein Institut kommen? Markowich : Nur sehr streng evaluierte mehrjährige Projekte, wie etwa die Wittgenstein- oder START-Preise, Wissenschaftskollegs etc... Es soll Spitzenforschung endlich auch eine Spitzen-Infrastruktur bekommen. Freund : Sehen Sie das als eine Lebensaufgabe? Markowich : Nein, wir müssen als Gründer auch nicht ewig an diesem Institut tätig sein, da kann auch der nächste mit einem Großprojekt kommen. Es soll eine flexible Struktur sein und bleiben. Niemand ist "automatisch" dort. Nur immer wieder unter Beweis gestellte Top-Leistung zählt, nicht ein Lehrstuhl oder so. Das leider an den Unis nach wie vor herrschende Prinzip "Position gilt und nicht Leistung" ist ein demotivierender Unsinn. Warum soll ein Lehrstuhlinhaber automatisch das Recht auf eine eigene Sekretärin, ja sogar Assistenten haben - und ein junger Forscher, der ein vielfaches leistet in Forschung und Drittmittelprojekten, geht in den Uni-Strukturen leer aus!? Freund : Wann soll es mit dem neuen Forschungszentrum losgehen? Markowich : Sobald wir einen passenden Bürokomplex gefunden haben. Und Strukturfinanzierung - das darf nicht aus wissenschaftlichen Mitteln, wie die des FWF, kommen. Freund : Manche Ihrer Kollegen haben Kritik an der gegenwärtigen politischen Situation geäußert. Was sagen Sie? Markowich : Ich würde sagen, die Sanktionen haben der Regierung weniger geschadet als den Bürgern, speziell den Wissenschaftlern. Dass in der gegenwärtigen Stimmung vieles untergeht, was eigentlich strukturell geschaffen werden müsste, ist auch klar; und das macht mich nicht glücklich. In Österreich ist offenbar kaum jemandem klar, dass Forschung und Wissenschaft kein Luxus sind. Sie sind vielmehr die einzige Chance, die das Land hat, in Zukunft mit dabei zu sein. Schauen Sie sich Finnland an! Doch in der bisherigen Budgetpolitik der Regierung sehe ich wenig Änderung zum Besseren, wenn da bei Forschung gespart wird und die Studenten mit Studiengebühren belastet werden. Freund : Wie ist es um den Nachwuchs bestellt? Markowich : Der sieht in diesem Jahr, in Zahlen gemessen, etwas besser aus als in den letzten. Und heute bekommt jeder Mathematiker, der fertig wird, einen guten Job. 1975, als ich zu studieren begonnen habe, da war von Berufsaussichten keine Rede. Heute: Industrie, Banken, Versicherungen! Auch Spitzenpositionen sind von Mathematikern besetzt. Freund : Werden Sie in Österreich bleiben? Markowich : Wir sind in Österreich an einem Wendepunkt. Gesellschaftspolitisch und universitätspolitisch. Das bestehende Dienstrecht und eine leistungsbezogene Vollrechtsfähigkeit sind unvereinbar, die Mittel für die Forschung sind vollkommen unzureichend. Ich habe ein Riesenglück, hier in Wien in diesem Moment einige Kollegen zu haben, mit denen gemeinsam es gelingen kann, positive Änderungen zu bewirken. Es gibt auch sehr positive Signale aus den Ministerien. Solange wir noch Hoffnung haben, bleiben und kämpfen wir. Aber es gibt für jeden von uns auch verlockende Angebote aus dem Ausland. Dem alkoholgetränkten Frust werde ich mich jedenfalls nie anschließen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 11. 2000)