Statistisch gesehen nehmen sich in Österreich jeden Tag zwischen 4 und 5 Menschen das Leben. Das macht im Jahr an die 1.600 Suizide. Nicht gerade eine quantité négligeable , wenn man sich vor Augen führt, dass diese Zahl sogar die Tode durch Verkehrsunfälle jährlich um 400 übersteigt. Damit ist Österreich zwar im internationalen Suizidraten-Spitzenfeld, wird aber immer noch etwa von den Ungarn, den Finnen, den Esten, den Letten oder den Litauern übertroffen, die mit über 30 Suiziden auf 100.000 Einwohner das düstere Ranking anführen. Solche internationalen Ranglisten sind allerdings mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da die Art der Datenerhebung in den einzelnen Ländern oft differiert. Stichhaltigere und vor allem für die Prävention essentiellere Daten liefert das nationale Suizid-Ranking nach Alter, Geschlecht, Wohnort etc. Eine eben fertiggestellte Studie über Suizidprävention in Österreich - herausgegeben vom Kriseninterventionszentrum Wien unter der Leitung von Prof. Gernot Sonneck im Auftrag des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit und Generationen - gibt einige teilweise bestürzende Antworten auf diese lange vernachlässigten Fragen. "In unseren Breiten ist die Suizidrate der Männer etwa doppelt so hoch wie jene der Frauen", berichtet Sonneck. Zudem steige das Risiko, im Alter durch Suizid zu versterben, vor allem bei Männern drastisch: "Während Burschen bis zum 15. Lebensjahr eine Rate von 2 (Suiziden auf 100.000 Einwohner) und Mädchen von 1 haben, steigt sie bei Männern ab 85 Jahren auf 120 (!), bei Frauen auf etwa 33. Bezogen auf den Familienstand sind Geschiedene beiderlei Geschlechts am stärksten suizidgefährdet: wobei geschiedene Männer auf die extreme Rate von 120 kommen, geschiedene Frauen auf 26. Die Ehe scheint präventive Wirkung zu haben, denn die eindeutig geringste Suizidrate haben die Verheirateten vorzuweisen, die der Ledigen (ab 20 Jahre) ist fast doppelt so hoch, die der Verwitweten dreimal und die der Geschiedenen fünf Mal höher. "Diese hervorstechenden Verbreitungsmerkmale definieren aber nur zum Teil die eigentlichen Risikogruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Selbsttötung 50 bis 500 mal höher ist als bei der Normalpopulation", erklärt Sonneck. Besonders gefährdet sind demnach Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige, Depressive, Alte und Vereinsamte, Personen, die schon einen Suizid angekündigt und schließlich Personen, die schon einen Suizidversuch unternommen haben - wobei die Reihung dem Grad der Suizid-Wahrscheinlichkeit entspricht. Obwohl die österreichische Suizidrate insgesamt durchaus beunruhigend ist, sollte man ihren anhaltenden Rückgang seit 1987 nicht außer Acht lassen: so sank sie in den vergangenen drei Jahren erstmals seit 1945 auf knapp unter 20 Suizide je 100.000 Österreicher. Immerhin hat sich laut Sonneck in den letzten 20 Jahren einiges in der Suizidprävention bewegt: Angesichts der nach wie vor relativ hohen Raten in unserem Land reicht dies aber bei weitem nicht. Vor allem fehle es an einem nationalen Programm. Hauptziel der Studie ist es deshalb, die sehr unterschiedlichen Hilfs- und Präventions-Angebote zu systematisieren und zu koordinieren. "Uns geht es nicht zuletzt auch darum, den Menschen in helfenden, beratenden und lehrenden Berufen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass ihre Tätigkeit immer auch ein gewisses Maß an Suizidprävention beinhaltet, über deren Anwendungsformen sie sich informieren sollten." Was aber bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn relativ große Gruppen ihrer Mitglieder keine anderen Lösungsmöglichkeiten für ihre Probleme mehr sehen als die Beendigung ihres Lebens? Was sagt der monströse Anstieg etwa der Selbsttötungen alter Menschen über ein politisches System aus? "Hohe Suizidraten sind immer auch ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, die sie hervorbringt", ist Sonneck überzeugt. Denn eine Selbsttötung ist nie nur die Verzweiflungstat eines Einzelnen - in diesem Akt spiegeln sich natürlich auch die Regeln, Befindlichkeiten, Einschränkungen und Ausgrenzungsmechanismen der gesamten Gesellschaft. "Eine große Gefahr sehe ich vor allem in der zunehmenden Entsolidarisierung einzelner Gruppen", verweist Sonneck auf die tiefgehenden Auswirkungen des aktuellen politischen Klimas. Rehabilitations- und Beratungsstellen, die besonders bei Risikogruppen oft zur Überlebensfrage werden, müssen selbst zunehmend ums Überleben kämpfen. Und wie man in unserer Gesellschaft mit alten Menschen umgeht, ist schlicht eine Schande: So werden etwa 90 Prozent aller depressiven Alten erst gar nicht mehr behandelt, und auch dem massiven Problem der Alters-Vereinsamung wird man mit dem Bau neuer Heime wohl nicht beikommen. Die von allen Bundesländern höchste Suizidrate von 27 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner hat übrigens die Steiermark. Auf Bezirksebene führen Liezen (Steiermark) und Feldkirchen (Kärnten) mit einer um über 50% erhöhten Rate. Dabei haben die Experten herausgefunden, dass die erhöhte Suizidalität hier nicht wie erwartet mit vermehrter Arbeitslosigkeit oder Armut korreliert ("die gibt es in anderen Bezirken genauso!"), sondern überraschenderweise mit einem gewissen Kinderreichtum und verstärkter Migration (also Ab- und Zuwanderung) im Bezirk: "Wenn eine Region innerhalb kürzerer Zeit mit großen Veränderungen konfrontiert ist - die nicht einmal negativ sein müssen - wird es mehr Suizide geben." Vermutlich werden die neuen Suizid-Daten unterschiedlichste Interpretationen nach sich ziehen. In einem Punkt aber werden sich wohl alle treffen: dass die rasanten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen mit der emotionalen Ausstattung vieler Menschen nicht kompatibel sind. - Und dass wir uns in Österreich ernsthaft darum kümmern müssen, wollen wir als halbwegs solidarische Gesellschaft vor uns selbst und dem Rest der Welt nicht gänzlich das Gesicht verlieren. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 11. 2000)