Zu den faszinierendsten Phänomenen der Politik gehört die Kluft zwischen Worten und Taten der Regierenden - und wie wenig das Image politischer Führung beim breiten Publikum von Realitäten berührt wird. Ich habe in der Debatte um das Nulldefizit daran erinnert, wie Ronald Reagan mit dem seinerzeit unerhörten Versprechen eines "Balanced Budget" erst gewählt und dann wieder gewählt wurde und bis heute als strenger Angebotsökonom gilt, obwohl er den größten Schuldenberg der US-Geschichte hinterließ. Die eiserne Spar-Lady Thatcher hinterließ schwindelerregende 7,8 Prozent Schulden und die Sozialquote stieg unter Thatcher/Major fast 50 Prozent über EU-Schnitt um satte 6,3 Prozent gegenüber drei Prozent im "sozialistischen" Österreich von Kreisky bis Vranitzky und Klima.

Doch Regierungen werden weniger an Fakten und Taten und Taten an Zielen gemessen als an ideologisch gehämmerten Klischees. Denn die meisten von uns folgen propagandistischer Selbststilisierung und nicht Fakten und Zahlen. Selbst einfachste imagewidrige Wahrheit wird ignoriert. Austriaca In Österreich sind sogar von zaghaften Reformplänen massive Abstriche durch sozialpartnerschaftliches Veto (SP/VP) oder durch stillschweigendes Fallenlassen schwieriger Absichten (VP/FP) üblich. Bei der Pensionsreform 1997 haben die Gewerkschaften Entscheidendes wegverhandelt, 2000 hat die Regierung in vielen paktierten Plänen vornweg der Mut verlassen. 1997 sollte z.B. der Durchrechnungszeitraum bis 2012 von 15 auf 20 Jahre erhöht werden. Tatsächlich geschieht sechs Jahre gar nichts, um ihn 2003-2019 auf 18 Jahre zu erhöhen (nur bei Frühpensionen) so, als ob Lebensdurchrechnung ein Pönale und nicht beitragsgerecht wäre. Die zweiprozentigen Abschläge von kaum über einem Drittel des versicherungsmathematisch Nötigen wurden mit zehn Prozent statt wie geplant mit 15 Prozent begrenzt, während die nur als Ausgleich für Beitragsäquivalenz und aktuarisch neutralen Malus (fast sechs Prozent jährlich, unbegrenzt) akzeptable Erhöhung der Steigerungsprozentsätze mit 1. 1. 2000 faktisch zur größten Pensionserhöhung seit dem Krieg führte. Auch 2000 wurden neben einigen entschlossenen Schritten - wie Anhebung des Frühpensionsalters um 18 Monate, Wegfall der Frühpension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit und Spreizung der Hinterbliebenenpensionen - vieles verwässert; oder, obwohl im VP/FP-Regierungsabkommen geplant, gar nicht erst gewagt. Auch wurde der Malus mit völlig ungenügenden 10,5 Prozentpunkten statt der erforderlichen rund 20 Prozentpunkte beschränkt. Anstatt den anachronistischen und europaweit einzigartigen Berufsschutz ersatzlos abzuschaffen, wurde er ausgeweitet, was die gesamte Reform unterlaufen könnte. Der Pensionssicherungsbeitrag der Beamten im alten Ruhegenusssystem beträgt nun 2,3 statt bisher 1,5 Prozent, obschon nur 12,5 Prozentpunkte kostendeckend wären. Das geplante "einheitliche Pensionssystem für Berufsanfänger in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst" gibt es weiterhin nicht, ebenso wenig ein persönliches Pensionskonto oder Kontenwahrheit und Kostentransparenz. Und die von VP/FP paktierte "Überprüfung der Beitragszeiten, der Durchrechnungszeiten und der Steigerungsbeträge" fand gar nicht statt. Die Einschränkung der kostenlosen Mitversicherung wird nur rund zehn Prozent der von der FP selbst geforderten Einsparungen erzielen. Das Schicksal des demographischen Korrekturfaktors erinnert längst an Musils große Parallelaktion: 1997 sollte der Beirat für Renten- und Pensionsanpassung bis Ende 98 Modelle entwickeln, um die steigende Lebenserwartung in der Pensionsanpassung zu berücksichtigen. Dem stimmten zwar selbst ÖGB und AK zu, obwohl es dem - unhaltbaren und ungehaltenen - Versprechen aller bisherigen Regierungen "in bestehende Pensionen wird nicht eingegriffen" widersprach - außer dass bis 2000 nichts geschah. So erhielt diesmal die Pensionsreformkommission von der neuen Regierung erneut denselben Auftrag, um festzustellen, dass dies zu jährlichen Anpassungen unter der Inflation führen würde. So sind auch nach der Pensionsreform 2000 zwei Drittel der Fiskaleffekte der Pensionsreform 1997 immer noch nicht verwirklicht! Alternativen zu wertmindernden Pensionsanpassungen sind nämlich entweder massive Kürzungen bei der Bemessung der Erstpensionen - oder ein um die weiter steigende Lebenserwartung steigendes Regelpensionsalter, das in ca. 15-20 Jahren von 65 auf 67 steigen müsste - eine vierte Alternative gibt es nicht.

Schlichte Wahrheit

Weil Sozialministerin Elisabeth Sickl an dieser einfachen und unleugbaren Wahrheit ehrlicherweise auch dann noch öffentlich festhielt, als mit Beendigung einer weiteren Minireform bereits wieder die Leugnung weiteren Reformbedarfs im Stile des Spätherbst 1997 einsetzte, musste sie gehen. Ist die schlichte Wahrheit - und die unabweisbaren Folgerungen daraus - den Menschen noch immer oder schon wieder nicht zuzumuten? Der neue Sozialminister Herbert Haupt plant endlich eine bessere Alterssicherung für Frauen. Vielleicht schafft der erste auch für Frauenfragen zuständige Mann in diesem Amt, was Frauen zu wünschen wäre, aber von maßgeblichen Männern in allen Parteien bisher blockiert worden ist. (DER STANDARD, Printausgabe 27.11.2000) Bernd Marin ist Sozialforscher in Wien.